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8.2.3 Integrität als Ordnungsregel

Das Motiv „Integrität“ thematisieren die Befragten typischerweise in Begründungen oder Stellungnahmen mit Bezugnahme zu externen wie internen Rahmenbedingungen des Geschäftsprozesses. In Anlehnung an das oben eingeführte Verständnis wird Integrität dabei aufgefasst als Werthaltung moralsensiblen Wirtschaftshandelns, die im Handlungsvollzug beobachtbar umgesetzt wird. Dabei finden handlungspraktische Anforderungen und antizipierte Handlungsfolgen im Prozess der Selbst- und Fremdvergewisserung Beachtung: Integres Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass zugrundeliegende Wertorientierungen in Bezugnahme zur relevanten Umwelt und ggf. auch gegen Widerstand verfolgt werden (vgl. Abschnitt 2.2.2).

Der Revisionssachbearbeiter FD formuliert im Interview mehrere Stellungnahmen die die Deutung nahelegen, dass er das Verfahren im Baueinkauf als integer bewertet. Als Schlüsselsequenz zur Identifizierung dieses Dokumentensinns wird nachfolgend eine Textstelle betrachtet, in der FD zur exmanent formulierter Frage nach Bestechungsrisiken Stellung nimmt:

„Also, wir sind immer dann noch auf die Sachfrage, also diese Trennung der Gewalten will ich mal sagen. Und das andere ist 'ne anständige, transparente Dokumentation und Darstellung. Das, das is eigentlich auch immer was. Das ist auch noch 'ne Hürde. Also wenn ich, wenn ich jetzt so 'n Vergabevorgang die einzelnen Stufen +++ das läuft beim Bau eigentlich sehr geordnet ab. Auch nach EU-Recht. Es gibt ja auch Einspruchsmöglichkeiten. Der unterlegenen die Bieter jetzt. Die haben jetzt 14 Tage Zeit +++ denen wird mitgeteilt "wir wollen den Auftrag +++ anderes" da haben wir schon zwei-, dreimal erlebt, dass die Einsprüche haben. Das hat zur Folge, dass da mindestens zwei Monate +++ erst mal +++ von so 'ner Vergabekammer das dann beurteilt wird, und wenn der Bieter noch Einspruch, dann geht's bis Oberlandesgericht. Dann können Sie so 'n halbes Jahr ++++ abschminken. Das heißt dann sind oft die Bau-, +++ die Bautermine auch dahin. Ja? Und +++ von daher is das auch schon so [3] 'n Kungelhindernis. Man überlegt sich das echt. Ja?“ (FD: 444-457)

Der Befragte FD formuliert hier Bezugnahmen zu Handlungsmaximen, darin gründende Selbstsowie Fremdvergewisserung. Als zentrale Maxime thematisiert er zu Beginn eine „Trennung der Gewalten“ und beschreibt damit das 4-Augen-Prinzip, das den Geschäftsprozess in struktureller sowie normativer Hinsicht kennzeichnet (siehe Abschnitte 7.2.1 sowie 8.2.1). Als zweite Handlungsmaxime nennt FD danach die „transparente Dokumentation und Darstellung“. Durch die Rahmung mit Bezug auf „die Sachfrage“, es geht allgemein um das Vergabeverfahren, werden diese Aspekte als normativ-konstitutive Elemente begründet: Im Verfahren gründen Sachfragen demnach auf zwei Maximen: 4-Augen-Prinzip und Transparenz. Der Orientierung an diesen Maximen schreibt FD eine korruptionspräventive Wirkung zu („ist … 'ne Hürde“). Dieser Einleitung folgt eine Elaboration, in der FD die Orientierung an diesen Maximen, im Vollzug des Vergabeprozesses, mit Beziehung auf Selbst- und Fremdvergewisserung, differenziert: Der Prozess wird als „geordnet“ und konform mit Rechtsnormen als relevanter Umweltbezug charakterisiert und von externen Trägergruppen (Bieter) auch so wahrgenommen. Die abschließende Bewertung als „Kungelhindernis“ retardiert die eingangs formulierte Wirkungserwartung. Im weiteren Verlauf rahmt FD die Praxis im Vergabeverfahren, orientiert an den Maximen Transparenz und 4-AugenPrinzip, wiederholend in der Erwartung der Korruptionsprävention: Einerseits in Form negativer Bezugnahme auf die Vergabepraxis im Zeitraum des Korruptionsvorfalls (siehe Abschnitt 7.2.1) (vgl. FD: 264-274, 478-485) (Fortführung). Andererseits als Exemplifizierung einer zweiten, aktuellen Beispielsituation, an der FD die Praxis der Verhandlungsführung bei EFS in Abgrenzung zur Praxis eines anderen Unternehmens darstellt und ebenso wie in der Schlüsselsequenz bewertet (vgl. FD: 533-547 Ratifizierung). Diese Rahmung der Vergabepraxis in den Äußerungen des Befragten FD lässt die Deutung zu, dass dieser den Geschäftsprozess als integer mit der Wirkungserwartung bewertet, Korruption im Unternehmen zu erschweren. Im Fallvergleich mit Äußerungen von Mitarbeitern im Einkauf ist diese Deutung nachvollziehbar:

„Das war ein typischer Fall. Da geht's jetzt, wir arbeiten ja unter dem Grundsatz Gleichbehandlung, Diskriminierungsfreiheit. Und, und wenn man gefragt wird:

"Wie soll ich das darstellen?" is natürlich so, dass das so von +++ oben +++ nach +++ unten +++ auch durchgängig so <-getragen-> wird. Und dann muss ich sagen: Das wird auch so <-getragen->. Wir haben da unsere strikten Regularien +++ und das hat sich auch zwischenzeitlich durchgesetzt, seit geraumer Zeit, das funktioniert auch so. Das wird auch bis, also vom Vorstand runter oder bis Vorstand hoch. Je nachdem, aus welcher Richtung man anfängt zu diskutieren, das wird auch so <getragen->.“ (FG: 94-102)

Die Textstelle kennzeichnet die Wiederaufnahme des Interviews nach einer kurzen Unterbrechung. Nach einem Telefonat nimmt der Interviewte FG das Gespräch selbstinitiativ wieder auf. Er bezieht sich in der zitierten Textstelle auf das Telefonat und begründet die dort vertretene Entscheidung mit Bezugnahme auf den „Grundsatz Gleichbehandlung, Diskriminierungsfreiheit“. Diese „Regularien“ sind unternehmensspezifischen Rahmenbedingungen, die FG als autoritativ abgesichert durch die Akteursgruppe Unternehmensvorstand begründet. In der Elaboration FG's werden sie als unternehmensweit anerkannte Regeln beschrieben, die Geltung beanspruchen: Sie werden „so getragen“[1]. Den Prozess Baueinkauf[2] rahmt FG als unternehmensweit anerkanntes Verfahren, das bestimmten Prinzipien folgt und aus diesem Grunde so angewendet wird (Identifikation).

Der Befragte FG formuliert im Interviewverlauf weitere Stellungnahmen zu den Prinzipien im Geschäftsprozess, in denen er deren externe Anerkennung plausibilisiert (vgl. FG: 270-278 Fortführung) und sie schließlich als konstitutiven Bestandteil des Selbstverständnisses der Abteilung Baueinkauf rahmt (Ratifizierung):

„Es gibt kein Handout, es gibt kein Taschenbuch: Wie führ' ich bei && (Baueinkauf EFS) die Verhandlungen. Haben wir nicht. Wir machen jeweils Einzelfallentscheidungen. ++++ Und da legen wir auch Wert drauf. ++++ Auch wenn wir jetzt, wenn wir jetzt seit einem Jahr unser Vergabehandbuch <-Bau haben->, auf dringenden Rat von entweder Revision oder && (Name Wirtschaftsprüfungsunternehmen), weiß ich nicht mehr da haben wir, wir haben 's im Übrigen da recht einfach. Wir, wir haben innerhalb von 2 Monaten hatten wir das fix und fertig. +++ Warum? Haben wir letztens noch drüber gesprochen, ganz einfach deshalb, weil wir uns eigentlich nur hinsetzen mussten und das nieder schreiben, wie wir, wie wir den täglichen Lauf der Dinge leben. Das mussten wir halt nur zu Papier bringen. Andere Truppen haben's da schwieriger. Die müssen +++ ganz von vorne anfangen, sich überhaupt mal zu sortieren. [3]“ (FG: 821-832)

Den Geschäftsprozess Baueinkauf thematisiert FG zusammenfassend als verlässliche und anerkannte Verfahrensprinzipien. Integrität ist hier als Kriterium dokumentiert, das die Rahmenbedingungen der Aufgabe und das Selbstverständnis der Abteilung beschreibt. Entscheidungen sind in dieser Lesart legitimiert dadurch, dass sie sich an Standards orientieren, die extern sowie intern anerkannt sind. Externe Anerkennung erhält der Geschäftsprozess durch die Trägergruppe (potenzieller) Lieferanten, intern wird der Prozess anerkannt und abgesichert durch die Trägergruppen „Vorstand“ sowie „EFS Mitarbeiter“.

Die Kontrastierung dieser Deutung mit Aussagen in weiteren Interviews stützt diese Interpretation. Die Befragten thematisieren „Spielregeln“ (FE: 185) im Geschäftsprozess allgemein sowie das 4-Augen-Prinzip im Sinne von Aufgabenteilung (vgl. FI: 5-30) sowie Verfahrensprinzipien (vgl. FI: 387-391) als verbindliche Maxime. Im praktischen Handlungsvollzug werden diese Maxime im Sinne der Selbstvergewisserung konkret: Sie wurden in der Vergabeverordnung formalisiert und konkretisiert (vgl. FI: 5-30, FD: 444-457). Sie bestimmen die Handlungspraxis bei Bewertung von Angeboten (vgl. FE: 100-117, 180-189), in der Gestaltung von Bieterverhandlungen (vgl. FD: 533-547) sowie der Überprüfung von Abrechnungen (vgl. FD: 264-274).

Die Befragten rahmen Entscheidungsbegründungen und Stellungnahmen zum Verfahren gemäß den Einkaufsprinzipien[3] typischerweise mit dem Argument, dass diese im Geschäftsprozess intern[4] sowie extern[5] anerkannt seien. Als Plausibilisierung der Anerkennung dieser Regeln beziehen sie sich dabei auf die jeweiligen Adressaten, die darauf gründende Entscheidungen als verlässlich bewerten. Externe Anerkennung der Prinzipien wird in der Reaktion von Bietern und Lieferanten begründet. Anerkennung von Detailfragen, die in Abweichung von geltenden Regeln praktiziert werden (vgl. FB: 388-395, FI: 374-387) sowie eine niedrige Zahl von Beschwerden durch diese Trägergruppe werden im Sinne einer Anerkennung des Verfahrens gedeutet (Fremdvergewisserung).

„Die Anbieter wissen, dass es bei uns so läuft, dass alle gleich behandelt werden. Da kommt kein Neid o.ä. auf, nur der Preis zählt – und da haben sie dann auch wenig Beanstandungen.“ (FB: 438-440)

Den Geschäftsprozess beschreiben die Befragten nicht nur als formale Verhaltensregeln, sondern sie begründen darin auch eine Wertvorstellung als Mitarbeiter im Einkauf[6]. Sie beschreiben als professionelles Selbstverständnis eine kritische Haltung, mit der sie die Maxime Transparenz, Gleichbehandlung und 4-Augen-Prinzip in alltagspraktischen Handlungsvollzügen durchsetzen. Die Konkretisierung dieses Selbstverständnisses im Handlungsvollzug wird deutlich in den Interviewpassagen mit einem Sachbearbeiter im Einkauf (FE), die authentische Darstellungen im Sinne des Handlungsvollzugs (actum) sind. [7] Die kritische Haltung des Befragten FE zeigt sich beispielsweise darin, dass dieser die Rahmung der Angebote hinterfragt. Konkret plausibilisiert FE nicht nur Preisekalkulationen, sondern hinterfragt Beziehungen zwischen Bietern und auswertenden Ingenieurbüros mit dem Hinweis auf Manipulationsrisiken. Diese Form kritischer Haltung konkretisiert hier die Maxime, Transparenz im Alltagsprozess der Auswertung von Angeboten mit der Erwartung, korruptive Manipulationen zu entdecken[8]. Darin dokumentiert sich wieder ein Aspekt der Selbstvergewisserung, d.h. die Orientierung an der Handlungsmaxime erfolgt bewusst. Diese Selbstgewissheit deuten die Befragten auch als sichtbares Kennzeichen im Kontakt zur relevanten Umwelt, die in eine Fremdvergewisserung mündet:

„Wir haben klare Prinzipien. Das 4-Augen-Prinzip ist ganz wichtig und wird vom Sachbearbeiter bis zum Vorstand durchgehalten. Auch die Dokumentation. Die Prozesse sind insgesamt alle transparent und wir behandeln alle gleich.“ (FB: 362364)

Auch in dieser Sequenz werden als „klare Prinzipien“ Transparenz und 4-Augen-Prinzip thematisiert. Sie werden nicht nur von Mitarbeitern des Einkaufs, sondern „vom Sachbearbeiter bis zum Vorstand durchgehalten“. Mit dem Hinweis auf die hierarchieübergreifende Bezugnahme auf die Prinzipien rahmt der zitierte Abteilungsleiter im Einlauf (FB) einen Fremdbezug. Nicht allein für Einkaufsmitarbeiter, sondern für alle am Prozess Beteiligten beschreibt der Befragte FB sie als verlässliche Maxime. Die Gültigkeit der Verfahrensprinzipien begründen die Befragten dabei damit, dass sie darin Entscheidungen im Unternehmen auch gegen Widerstand durchsetzen (vgl. FG: 125-136, 580-593) und Folgekosten externalisieren:

„Ja diesen Aufwand haben wir ja nicht im Einkauf. Den hat ja die, den hat ja die Bauleitung. Ne? Von daher kann's mir erst recht egal sein.“ (FG: 592f)

Pointiert wird Integrität als Handlungsmaxime für den Geltungsbereich Einkauf in einer metaphorischen Äußerung des Bereichsleiters FC, mit der er eine auf diesen Prinzipien gründende Entscheidung pointiert: „Wir als Einkauf sind auch die Gralshüter sozusagen. Sagen: "nee, s muss der sein!"“ (FC: 816).

Das Ergebnis der Analyse ist die Ableitung einer weiteren Ordnungsregel im Geschäftsprozess Einlauf von Bauleistungen:

Der Geschäftsprozess ist ein anerkanntes Verfahren, das klaren Prinzipien folgt. Zur Absicherung der Integrität orientieren sich verfahrensbezogene Handlungsentscheidungen an diesen Prinzipien.

  • [1] Der Befragte FG betont diese Stellungnahme explizit: Die Verbindlichkeit der Regeln betont FG durch kurze Pausen in der Darstellung der hierarchischen Absicherung „von +++ oben +++ nach +++ unten+++“ sowie durch die Dehnung der Begriffe „getragen“.
  • [2] Begründet am Beispiel der vorangegangenen Alltagssituation beim Telefonat.
  • [3] Aufgabentrennung zwischen Bau- und Einkaufsabteilung (FI: 223-240), Formale Regelung des Prozesses (FI: 679-685), Praxis der Lieferantenqualifizierung (FB: 424-440), Auswertungspraxis (FE: 304-310), Vergabeentscheidungen (FC: 812-816), Rechnungsprüfung (FL: 597-615, 617-641).
  • [4] Vgl. FE: 749-769, FG: 94-104, 125-136, 811-837 und FI: 374-387.
  • [5] Vgl. FB: 388-395, FL: 100-114, FD: 545-550, 485-495, FE: 673-701, 978-1011 und FG: 262- 278.
  • [6] Bei EFS ist die Praxis der Bauvergabe orientiert an den Prinzipien des Vergaberechts. Danach ist dem „unter Berücksichtigung aller Umstände wirtschaftlichsten Angebot“ der Zuschlag zu erteilen (§18, Abs. 1, S. 1 VOL/A, §21, Abs. 2, S. 1 VOL/A) (siehe dazu auch Abschnitt 8.2.1).
  • [7] Die Elaborationen der Alltagspraxis des Befragten FE sind als authentisch deswegen einzuschätzen, da FE vorliegende Angebote erörtert und den beiliegenden Preisspiegel plausibilisiert. Die Erläuterungen FE's sind daher in weiten Teilen des Interviews kein Erzählen über seine Alltagspraxis, sondern ähneln vielmehr einer Kommentierung seiner Praxis, die von der Interviewerin im Gesprächsverlauf miterlebt wird.
  • [8] Vgl. FC: 657-659, FE: 307-418, 864-879, 1069-1080.
 
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