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5.5.5 Reflektierende Interpretation

In diesem Bearbeitungsschritt stand die Frage im Vordergrund, wie Themen in Interviewpassagen und Dokumenten gerahmt werden (vgl. Bohnsack 2003: 563f; Nohl 2009: 47). Der damit angesprochene dokumentarische Sinn von Äußerungen in Interviews[1] ist eng mit dem Erleben einer Handlung verknüpft. Hier wird nach Prinzipien oder Sinngehalten gefragt, die konkreten Äußerungen im Interview zugrundeliegen (vgl. Bohnsack und Nohl 2001: 303f).

In Anlehnung an das oben eingeführte handlungstheoretische Verständnis, werden typische Handlungssituationen als Schlüsselsequenzen interpretiert, die entweder als Handlungsentwurf (actio) oder als Handlungsvollzug (actum) in den Äußerungen der Befragten erscheinen (vgl. Abschnitt 4.5.1). Handlungssituationen, die als actio thematisiert werden sind dadurch gekennzeichnet, dass die Befragten Beschreibungen oder Stellungnahmen über das WMS formulieren, bzw. Maßnahmen als WMSspezifisch in antizipierender Weise beschreiben. Folgende Textpassage verdeutlicht diese Bezugnahme:

„da hat glaub' ich mal 'ne ehemalige Geliebte, die Sekretärin war von einem, die hat das dann an die Staatsanwaltschaft getragen. So kommt das dann raus, anders findet man das das nicht. Also deswegen: Klar, wir gucken das an, aber das is +++ nich so richtig +++ wirksam. Ja. +++ Und eben um diese andern abzugreifen is dieses Hinweisgebersystem eben schon wichtige – wichtiges Instrument. Auf jeden Fall. [3] Ja.“ (FH: 1044-1050)

Eingeleitet über die Beschreibung einer EFS-spezifischen Geschichte wird das Hinweisgebersystem in dieser Äußerung als WMS-spezifische Maßnahme gerahmt. FH beschreibt die Einzelfallbetrachtung in einer selbstkritischen Stellungnahme, als „nich so richtig +++ wirksam“ und leitet danach zur Maßnahme „Hinweisgebersystem“ als idealtypischen WMS-Bezug für vergleichbare Situationen über.

Äußerungen, die Entscheidungen und Handlungen als Handlungsvollzug (actum) thematisieren, zeichnen sich durch authentische Elaborationen aus[2], in denen die Befragten erlebte Ereignisse, Entscheidungen oder Handlungen äußern und diese in ihren Darstellungen als WMS-spezifisch rahmen:

„Ich wurde angerufen (klopft nachfolgend auf den Tisch) "warum is denn der Herr sowieso gekündigt worden? Was ist denn da los? War heute Morgen nicht mehr da!"“ (FK: 673-675)

Ziel der reflektierenden Interpretation ist es, Deutungs- und Orientierungsmuster der jeweiligen Bezugsprobleme im Einzelinterview zu identifizieren um sie danach einer komparativen Analyse zu unterziehen. Forschungsleitend in diesem Analyseschritt ist die Frage, was sich in den Aussagen über den Fall zeigt und welche impliziten Abgrenzungen oder Orientierungen darin zu erkennen sind: Welche Prinzipien dokumentieren sich im Material, die die Äußerungen anleiten (vgl. Przyborski 2004: 55; Liebold 2009: 40)? Nicht der textimmanente Sinn, sondern die Muster die hinter den Äußerungen der Befragten hervortreten sind hier von Interesse. Bereits in diesem Schritt ist eine komparative Perspektive wichtig, da sich der „Orientierungsrahmen erst vor dem Vergleichshorizont anderer Fälle […] herauskristallisiert“ (Bohnsack 2003: 563).

Forschungspraktisch wurde der Orientierungsgehalt im Material rekonstruiert indem das ausgewählte Textmaterial Satz für Satz betrachtet und in der Art und Weise interpretiert wie Äußerungen thematisiert wurden. Während die formulierende Feininterpretation den immanenten Sinngehalt einer Sequenz herausarbeitet, werden in der reflektierenden Interpretation Äußerungen unter Bezugnahme auf Textsorten analysiert (vgl. Kleemann et al. 2009f; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010f). Die Analyse wurde durch folgende Schritte angeleitet:

- Der Sinngehalt der Aussage wurde gedeutet und

- kontrastiert mit vorhergegangenen Äußerungen sowie

- in Beziehung gesetzt mit nachfolgenden Äußerungen.

- Dabei wurden sowohl Merkmale auf textformaler (z.B. Satzstruktur, Satzfragmente, Textsorten) und inhaltlicher Ebene beachtet (z.B. Themenwechsel, Themenvermeidungen, Wiederholungen) aber auch Auffälligkeiten (z.B. Sprechgeschwindigkeit, Wechsel in der Lautstärke, besondere Betonungen, Pausen, Zögern, auffällige Gesten) in die Interpretation einbezogen[3].

- Dokumentarische Sinngehalte bzgl. Vor- und Hintergrundkonstruktionen in Textpassagen wurden erörtert,

- unter Hinzuziehung von alternativen Lesarten.

- Zur Absicherung der Deutungsarbeit werden bei Bedarf weitere Kontextinformationen aus den Feldnotizen hinzugezogen.

Die reflektierende Interpretation findet zunächst auf der Ebene der Einzelinterviews statt. Dazu wurden Schlüsselsequenzen ausgewählt, in denen der Dokumentensinn in Bezug auf ein Thema erkennbar wird. Durch Vergleiche innerhalb des Einzelfalls wird zunächst die dokumentarische Sinnstruktur abgesichert. Liebold nennt in Anlehnung an Bohnsack als Auswahlkriterien zur Interpretation dieser Textstellen forschungsthematische Relevanz, metaphorische Dichte einer Passage sowie thematische Vergleichbarkeit bezüglich thematisch ähnlicher Passagen (vgl. Liebold 2009: 39f). In der vorliegenden Studie wurde dieser Empfehlung entsprechend das Material zunächst selektiv interpretiert. In einem ersten Schritt wurden die Einzelfälle, die aufgrund ihres Expertenstatus in der Organisation (hierarchischer Status und Aufgabenverantwortung) besonders typisch zur Erörterung des jeweiligen Bezugsproblems eingeschätzt wurden, einer ersten reflektierenden Interpretation unterzogen. Mit den Ergebnissen der komparativen Analyse wurden dann weitere Fälle in einer vergleichenden Analyse zum jeweils bearbeiteten Bezugsproblem, im Verfahren der reflektierenden Interpretation, ergänzt.

  • [1] Der dokumentarische Sinn in Dokumenten vollzieht die Repräsentationsform von Themen nach.
  • [2] Die Befragten nutzen hier häufig wörtliche Rede, wechseln abrupt Themen oder formulieren assoziative Retardationen. Sie fügen kurze Pausen ein oder erzählen in emotionalisierender Art und Weise, unterstützt durch Gesten, Dynamik, lebendige Sprachmelodie und variierendes Sprechtempo.
  • [3] Obwohl hier keine narrativ-biographischen Interviews durchgeführt wurden, sind viele narrative Passagen enthalten, die die aus der Erzähltheorie abgeleiteten Zugzwänge der Gestaltschließung, Detaillierung und Kondensierung erkennen lassen (vgl. Schütze 1983).
 
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