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Recherche

Recherchieren Sie vor dem Interview die zu einem Konflikt/einer Entscheidung gehörenden (Gegen-)Positionen. Kontroverse ohne Recherche ist sehr selten möglich. Sie brauchen: genaue Fakten, eine genaue Kenntnis des vermutlichen Standpunktes des Befragten, eine genaue Kenntnis der Art der befragten Person, zu argumentieren; gute Begründungen der eigenen Fragen. Fehlt die Recherche, wird der Interviewer zumeist die fehlende Recherche durch Emotionen und Vorurteile ersetzen – damit aber verliert er bei Befragten und Empfängern. Er fragt für sich.

Beispiel: Wenn Sie einen Vertreter der Deutschen Post AG fragen, warum die Laufzeiten für Briefe so lang sind, reicht es nicht, nur die Ergebnisse der Studie der Stiftung Warentest zu kennen. Sie sollten auch die Methode der Studie kennen, denn daran wird der Befragte ansetzen.

Die wichtigsten handwerklichen Merkmale eines kontroversen Interviews sind: Recherche, wenige Punkte, Zuhören und Nachfragen. Wir gehen hierauf im Folgenden ein.

Vorgespräch

Wenn es überhaupt geführt wird, dient es dazu, Fakten zu klären („Ist es richtig, dass eine normale Jahreskarte 50 € kostet?“ „Und das Jobticket dann nur 25 €?“) und das nonverbale Verhalten der befragten Person kennen zu lernen.

Tipps für das kontroverse Interview

Beschränken Sie das kontroverse Interview auf ein bis zwei Punkte. Sie haben dann mehr Zeit zum Nachhaken – und Nachhaken ist unabdingbar bei kontroversen Interviews.

• Nehmen Sie Gegenpositionen ein, aber zitieren Sie hierfür andere Personen, Institutionen oder Medienberichte. Auf keinen Fall sollten Sie „Ich meine ...“, also von sich aus fragen. Das hat zwei Wirkungen: 1. Reagiert der Befragte heftig und mit Gegenargumenten (was er soll), so steigt Ihr Adrenalinspiegel und Sie sind nicht mehr nüchtern bei der Sache. 2. Ihre Meinung muss nicht die Meinung aller Empfänger sein.

Stellen Sie also indirekte Fragen, wie hier Ulrich Wickert in einem Interview mit Oskar Lafontaine (25. 3. 1996):

I: „Nun sagt eine Umfrage, dass nur zehn Prozent der Bundesbürger der Meinung sind, dass die SPD die Probleme des Landes bewältigen könne. Müssen Sie da nicht etwas tun?“

B: „Wir haben derzeit einen Vertrauensverlust der Politik. Grundlage ist die hohe Arbeitslosigkeit von über vier Millionen, die hohe Steuerund Abgabenbelastung und die hohe Staatsverschuldung. Und dieser Vertrauensverlust wirkt sich auch auf die SPD aus, denn die Zahlen für die CDU sind keinen Deut besser. Ich hoffe, dass es jetzt endlich zu Entscheidungen in Bonn kommt, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen“.

Oder wie hier Sarah Strohschein in einem Interview mit Gerd Lottsiepen, Verkehrspolitischer Sprecher des Verkehrsclubs Deutschland (tagesschau.de, 29. 1. 2007):

I: EU-Umweltkommissar Stavros Dimas will die Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, bei allen ab 2012 zugelassenen Autos den CO2-Ausstoß auf höchstens 120 Gramm pro Kilometer zu begrenzen. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos warnte für diesen Fall vor dem Verlust zehntausender Jobs. Wie sehen Sie das?

B: Was Glos gesagt hat, halte ich für absolut blödsinnig. Seine Position gefährdet Arbeitsplätze, weil er nicht auf die Technik von morgen setzt. In der deutschen Automobilindustrie wird viel Geld mit Fahrzeugen verdient, die zu groß, zu schwer und zu schnell sind – und die entsprechend viel verbrauchen. Die Autos deutscher Hersteller produzieren durchschnittlich 170 Gramm CO2 pro Kilometer – also rund 50 Gramm mehr, als es 2012 sein sollen. Wenn Glos jetzt findet, dass die Autoindustrie weitermachen darf wie bisher, dann gefährdet er Arbeitsplätze in fünf Jahren oder zehn Jahren.

I: Glos steht mit seiner Meinung nicht alleine da. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Daimler-Chrysler, Erich Klemm, hat gesagt: „Wenn das so beschlossen wird, dann müssen wir unsere Fabriken schließen, in denen C-, Eund SKlasse produziert werden. Betroffen wären in Sindelfingen, Untertürkheim und Bremen rund 65. 000 Arbeitsplätze“.

B: Das ist genau so kurzsichtig wie das, was Glos sagt. Natürlich kann man die C-Klasse weiter bauen – aber die Autos müssen dann weniger verbrauchen. In Deutschland kann man sich allem Anschein nur vorstellen, dass Autos 200 PS haben und viel Sprit benötigen. Das ist kein Naturgesetz.

• Verwenden Sie eine indirekte Kritik: „Fast alles lässt sich verbessern. Was lässt sich Ihrer Meinung nach an der Organisation des ADAC verbessern?“ oder „Wenn Sie entscheiden könnten, wie Sie wollen, was würden Sie an der Organisation des ADAC verbessern?“

• Recherchierte Fakten dienen dazu, den Fragetyp „Information plus Frage“ anzuwenden und die befragte Person mit Fakten zu konfrontieren, die im Vorgespräch nicht genannt wurden.

„Sie haben im Jahre 1980 in einem Interview mit der FR gesagt, Kalkar müsse weiter gebaut werden. Damals lag aber schon das Gutachten des Institutes X vor, das sich gegen den Weiterbau aussprach. Warum haben Sie es dennoch befürwortet?“

„Mehrere Ex-Mitglieder von Scientology haben mir gesagt, sie seien unter starken Druck gesetzt worden, als sie austreten wollten. Wie erklären Sie sich das?“

• Konfrontieren Sie den Befragten mit Fakten; deuten Sie diese aber auf keinen Fall im Vorgespräch an. Der Idealfall ist, während des Interviews die Kopie eines Dokuments vorzulegen. So konnten wir dem Vorsitzenden der „Republikaner“ in Hannover nicht anhand des Parteiprogramms, wohl aber eines Flugblatts, das der Interviewer während des Interviews vorlegte, ausländerfeindliche Aussagen nachweisen. Das brachte ihn in Schwierigkeiten und in Widerspruch zu seinen zuvor gegebenen Antworten, die Partei sei keineswegs ausländerfeindlich oder riefe gar dazu auf.

• Warten Sie auf Widersprüche. Stellen Sie dem Befragten offene Fragen und fragen dann nach: „Können Sie das genauer sagen?“ „... dafür ein Beispiel geben?“ Dann genau zuhören, wo sich der Befragte widerspricht. Beispiel: Die Pressesprecherin von Scientology sagt, sie wisse nicht, welche Summe an die Scientology-Zentrale in den USA überwiesen würde; sagt aber wenig später, als Pressesprecherin kenne sie die Bilanzen von Scientology.

• Durchdenken Sie das Problem: Wie geht die Sache vor sich? (Handlungsbedarf) und stellen Sie Fragen zu Einzelheiten (s. Interview 19). Beispiele:

Autofreie Innenstadt: Wer darf wann in die Innenstadt? Was ist mit Kinound Theaterbesuchern? Was ist mit Anwohnern? Was ist mit deren Besuchern? Gibt es genügend Park and Ride-Plätze am Rand der Stadt? Neue Frachtzentren der Bundespost: „Hat die Post schon die Flächen für die 33 Frachtzentren?“, „Gibt es Proteste von Bürgern gegen solche Flächenausweisungen?“, „Was ist mit dem Plan der Post, wenn bis 1994 nur 25 Frachtzentren gebaut werden können?“, „Wie hoch ist dann das Defizit der gelben Post?“

• Verwenden Sie interpretierende Nachfragen, um die Position der Befragten deutlicher herauszuarbeiten. Fahren Sie fort: „Wenn Sie nun meinen ..., dann müssten Sie aber ...“.

• Fragen Sie nach, wenn der Befragte ausweichend antwortet. Hierzu zwei schöne Formulierungen: Gerd Scobel in einem Interview mit Friedrich Merz, als Merz eine ausweichende Antwort gibt: „Das war eine scheinbar professionelle Antwort. Wie lautet die richtige?“ Oder Armin Wolf (ORF): „Das war die Antwort aus dem Setzkasten. Haben Sie noch eine andere?“

• Achten Sie auf das Klima im Interview. Seien Sie neugierig, damit Ihnen kein Argument entgeht und zeigen Sie es auch (vorbeugen, offen ansehen, nicken, nachfragen).

• Wiegen Sie den Befragten in Sicherheit: „Sie als Fachmann“, „Sie haben ja damals sehr interessante Thesen vertreten“.

• Verwenden Sie einen Bluff: Statt geschlossen zu fragen „Haben Sie in den letzten Jahren Mitglieder verloren?“, fragen Sie „Wie viele Mitglieder haben Sie denn in den letzten Jahren verloren?“ (Das „denn“ suggeriert, dass die Frage sich logisch aus der vorangehenden ergibt.) Statt „Hat Sie die Aussage der Witwe verletzt?“ fragen Sie: „Inwieweit hat Sie die Aussage der Witwe verletzt?“ Oder: „Die Aussage der Witwe hat Sie aber doch verletzt!?”

• Kritik an der Frage: Wenn der Pressesprecher der Polizei antwortet

„Das ist eine Frage, die Sie meinem Präsidenten stellen müssen“, dann geben Sie nicht auf, sondern fragen „Und was vermuten Sie, wird er sagen?“ oder schärfer „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie hierzu keine (eigene) Meinung haben“.

• Erzeugen Sie Zeitdruck: Bei einem kontroversen Interview ist ein Stilmittel, den Befragten zu spontanen oder gar emotionalen Antworten zu bewegen. Man versucht, dem Befragten weniger Zeit zum Nachdenken zu geben. Dabei tritt häufig der Fehler auf, zuerst die Frage zu formulieren und dann noch eine Information hinterher zu schieben.

Beispiel: „Warum haben Sie nicht früher reagiert? Eine Studie von Bremer Wissenschaftlern hatte doch längst bewiesen, dass in der Nähe von Kernkraftwerken ein sehr viel höheres Leukämie-Risiko besteht.“ Hier hat der Befragte die Möglichkeit, sich auf die Frage „Warum ...“ die Antwort zu überlegen, während der Interviewer den InformationsTeil „Eine Studie ...“ spricht. Besser ist es, die Teile umzukehren: „Eine Studie ...“, dann: „Warum?“. Nun hat der Befragte weniger Zeit, sich eine (ausweichende) Antwort zu überlegen.

Diese Form, den Befragten noch stärker unter Druck zu setzen, lässt sich auch an einfacheren Beispielen zeigen. Statt „Warum ist die Aufstellung nicht vollständig?“ fragen Sie „Die Aufstellung ist nicht vollständig. Warum?“

 
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