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Das journalistische Interview
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Grundlagen6. Vorbereitung und KonzeptDas größte Problem des Interviews liegt vor dem eigentlichen Interview: ein Konzept zu erstellen. Dazu gehören vier Schritte, die wir im Folgenden behandeln wollen: 1. das Problem analytisch zu durchdringen: Worum geht es genau?, 2. den Handlungsablauf der Sache zu analysieren, 3. zu fragen, welches die an einem Konflikt beteiligten Personen oder Parteien sind und welche Ansichten sie zu dem Problem vertreten, 4. schließlich und vor allem: eine heroische Beschränkung des Themas. Im Einzelfall werden nicht alle Schritte erforderlich sein, mit Gewissheit jedoch die heroische Beschränkung. Ferner werden Sie bei sehr vielen Themen zu einem guten Konzept gelangen, wenn Sie die Fragen am Handlungsablauf orientieren. Gehen Sie aber nie ohne Konzept in das Interview. Je besser das Konzept, desto besser ist das Interview. Wenn Sie wissen, was Sie fragen wollen, sind Sie ruhiger und können es sich zeitlich leisten, Nachfragen zu stellen. Mit „Konzept“ ist ein Plan für die Anlage des Interviews gemeint. Das Konzept besteht aus dem Informationsziel und den wichtigsten „Punkten“ zu einem Thema, die der Interviewer erfragen könnte. Der Interviewer sollte zunächst alle Punkte, die zu einem Thema wichtig sind, auflisten. Heroische Beschränkung statt zu vieler Themen: Nach dem Vorgespräch und mit Blick auf die Zielgruppe der Empfänger und das Informationsziel beschränkt er sich auf wenige dieser Punkte. Auf dem Zettel für das Interview (Karteikarte) stehen nur noch diese Stichworte. Nicht jede Frage sollte ein neues Thema (einen neuen „Punkt“) angehen. Damit verlieren die Empfänger die Übersicht, empfinden das Interview als „Abhaken“ von Fragen. Auch hat das Interview dann keinen Schwerpunkt (= längere Zeit für ein Thema), was dazu führen dürfte, dass alle Informationen an den Empfängern vorbeirauschen. Hierfür drei Beispiele: 1. Hörfunk-Interview von vier Minuten; Thema: Falschgeld in Berlin; Befragter: ein Vertreter der Kriminalpolizei. Liste der Punkte vor dem Vorgespräch: • Woran erkennen? (a) • Wie viel in Berlin im Umlauf? (b) • Wer stellt Falschgeld her? (c) • Wie entdeckt die Polizei Falschgeld? (d) • Welche Arten von Falschgeld (Münzen, Scheine)? (e) • Wie verhalten, wenn ich unwissentlich mit Falschgeld bezahle? (f) Blickt man auf diese Liste und rechnet pro Punkt (Fragen, Antwort, Nachfragen) eine Minute, bezieht zudem aus dem Vorgespräch ein, wie der Befragte antwortet (ruhig, etwas langsam, sorgfältig), so wird deutlich: Nicht alle Punkte lassen sich im Interview behandeln, die Zahl der Punkte muss also begrenzt werden. Eine endgültige Liste in Reihenfolge der Fragen könnte sein: • Was tun bei Bezahlung? (f) • Arten? (e) • erkennen? (a) • Umlauf? (b) Das tatsächlich geführte Interview dauerte vier Minuten; die Antworten auf die Fragen e, a und b jeweils rund 40 Sekunden, die auf Frage f (mit Nachfrage, ob und wie man bestraft würde) 90 Sekunden. – Die Beschränkung war also sinnvoll. Eine andere Reihenfolge wäre e -a b fgewesen, doch mit f zu beginnen, erzeugt vermutlich mehr Aufmerksamkeit. 2. HSV wird Aktiengesellschaft Auf der Mitgliederversammlung des HSV am 15.4.1991 wurde die Gründung einer „HSV-Sport-Aktiengesellschaft“ beschlossen. Es wurden 36.000 stimmberechtigte Namensaktien zu je DM 1.000,ausgegeben. Aus dem Werbeprospekt vom 27.6.1991: „Selbstverständlich versteht sich die HSV-Sport-Aktiengesellschaft als gewinn-orientiertes Unternehmen und wird alles daran setzen, eine gute Rendite für die Aktionäre zu erwirtschaften.“ 34 Grundlagen Angenommen, Sie befragen den Präsidenten des HSV zu diesem Thema. • Was fragen Sie ihn in einer Sportsendung, z.B. „Aktuelles Sportstudio“? • Was fragen Sie ihn in einer Wirtschaftssendung, z.B. „plusminus“? 3. Einsatz in Afghanistan Befragt wird ein 40 Jahre alter Offizier der Bundeswehr, der schon mehrfach zum Einsatz in Afghanistan war. Es lassen sich sehr unterschiedliche Interviews führen; drei erprobte Konzepte stellen wir vor.
Es ist offenkundig, dass nur eines der Konzepte gewählt werden kann, was dann von der Art der Sendung abhängt. Es mag reizvoll sein, sie zu mischen, doch wird das Interview dann keinen roten Faden und keinen Schwerpunkt haben. Sie können zu dem Konzept auch mit Hilfe der Methode des mind mapping gelangen (vgl. mindmanager.de). Dazu tragen Sie in die Mitte eines quer gelegten DIN A4-Blattes das Thema ein. Dann schreiben Sie alle Ideen (unsere „Punkte“) als Äste aus diesem Kasten heraus, wobei Sie darauf achten sollten, verwandte Ideen in die gleichen Äste einzutragen. (Sollte das Ergebnis nicht mehr übersichtlich sein, zeichnen Sie es noch in besserer Form ab.) In Abbildung 2 haben wir ein solches mind mapping für das Thema „Ganztagsschule“ vorgenommen. Was Sie hiermit erhalten, ist ein grafisches Konzept, das es Ihnen erlaubt, zu entscheiden, welchen Ast (= welches Teilproblem) Sie im Interview behandeln wollen; zugleich wissen Sie, welche Teiläste („Zweige“) Sie in Fragen umformulieren müssen. Abbildung 2: Beispiel für ein mind map Das nachfolgende Beispiel (Interview 5) zeigt die Probleme eines nicht zu Ende gedachten Konzeptes, der mangelnden Absprache der „Inszenierung für Dritte“ oder zeigt das panische Sprechen, das einen I befallen kann, wenn die Expertin nicht die redaktionellen Erwartungen erfüllt. Interview 5 ORF heute mittag, 30. 4. 2014 Martin Ferdiny – Marion Seidenberger, Verkehrspsychologin I: Dazu begrüße ich in unserem Studio jetzt Verkehrspsychologin Magister Marion Seidenberger von MTC. Herzlich willkommen. Jetzt haben wir's gerade gehört: Achtmal höheres Sicherheitsri siko für Personen, die sich nicht anschnallen und trotzdem gibt's noch viele Gurtenmuffel. Warum eigentlich? Macht man das 1 besser, wider besseren Wissens? B: Wir haben's im Beitrag auch gehört, dass manche sagen, naja die Straße, ich kenn die Fahrbahn gut, ich kenn die Straße gut, ich hab nur kurze Wege, ich muss oft einund aussteigen. Das Wetter ist schön, die Sonne scheint, die Fahrbahn ist trocken; aber natürlich gibt es auch manche, die sagen, ich zerknitter mir doch nicht mein Hemd oder im Sommer, dann da hab ich so ein Schwitzstreifen drüber und das ist unangenehm, aber das sind alles Ausreden, die eigentlich nicht zählen sollen, wenn's drum geht eben sicher zu sein. I: Sie sagen's gerade, es sind Ausreden. Spielt da vielleicht nicht irgendwie eine psychologische Komponente auch mit, dass man 2 sich irgendwie bevormundet fühlt? So quasi, ich weiß doch sel- ber was ich zu tun habe oder ist das irgendwie das eingeengte Gefühl, dass man möglicherweise hat, wenn man den Gurten anlegt? Also irgendetwas, was sozusagen rational nicht erklärbar ist, aber trotzdem sozusagen das Hirn ausschaltet, muss man fast sagen. B: Richtig, da spielt sicher auch eine Rolle, denn man hat auch beobachtet, dass zum Beispiel in der Nacht mehr Leute nicht angeschnallt fahren. Warum? Weil sie eben drauf gekommen sind, dass man das nicht so gut beobachten kann. Das nicht angeschnallt sein ist ein Anhaltedelikt, das heißt, dass der Polizist muss mich anhalten und muss mich direkt drauf hinweisen und das wird vor Ort und Stelle gleich dann abgehandelt. In der Nacht wird man nicht so beobachtet und sie glauben natürlich dann, dann kann ich fahren wie ich will. Nicht bedenkend, dass es egal, wann ich fahr ich zu einem Verkehrsrisiko werde für mich selber und die Verletzungsschwere natürlich erhöht wird, wenn ich nicht angeschnallt bin. I: Wie kann man dagegen irgendwie so ein, irgendetwas unternehmen? Dass man sozusagen diesen, diesen Mechanismus ausschällt, -schaltet. Dass man sagt, ok ich, ich will mich zwar 3 nicht anschnallen, ich bin ein Gurtenmuffel, jetzt spricht alles aber dafür und jetzt mach ich's dann trotzdem. Also das ist ja irgendwie eine, eine irrationale Handlung eigentlich. B: Von der Technikseite her gibt's so Gurtwarner, die bevor man dann eben losfährt, die piepsen dann und machen einen relativ nervös. Das könnte eine Möglichkeit sein, aber andererseits könnte es einen Automatismus: ich steige ein und bevor ich starte gleich anschnallen und nochmal fest anziehen, dass der Gurt richtig liegt, denn viele wissen gar nicht, dass ein Gurt zum Beispiel nicht nahe am Hals liegen soll oder nicht zu weit außen bei der Schulter sein soll. Manche haben natürlich auch die bequeme Variante Gurt über dem Bauch. Das geht gar nicht. Das hilft dann überhaupt nix. Der Gurt muss schön am Becken ansitzen. Das heißt, das sind alles Dinge, die man vorher kurz bedenken soll und wenn das einmal erledigt ist, dann kann ich losfahren. Ich fahr ja auch nicht mit offener Tür. Das ist ja auch ein Automatismus, dass ich zumache. I: Jetzt sind die Autos immer sicherer geworden. Es gibt Airbags, die Karosserien werden sicherer. Ist das vielleicht auch ein ein Sicherheitsgefühl, dass man sagt: Naja gut jetzt auf den Gurten kann ich verzichten, weil es ist eh alles rund um mich so sicher. B: Das spielt sicher ne Rolle. Autos werden größer, werden höher, werden bulliger. Die Aund die B-Säulen zum Beispiel werden verstärkt. Die Scheiben werden kleiner. Das heißt man hat ein bissel ein Gefühl des rollenden Safes, des rollenden Tresors. Mir kann eh nix passieren. Und genau das ist es, wo die Leute dann nicht drüber nachdenken, denn nur ein optimales Zusammenspiel von Airbag und Gurt macht es sicher, dass ich also der Fahrer oder die Beifahrer genau dort positioniert sind, wo die Techniker und die Verkehrssicherheitsexperten errechnet haben, wo ein Aufprall dann stattfindet, der meine Verletzungsschwere reduzieren kann. Oder eben sogar überhaupt die Verletzung nahezu ausschalten kann. I: Jetzt müssen sich ja eigentlich ja alle Passagiere im Auto anschnallen. Also nicht nur der Fahrer. Das sind's dann eh schon relativ viele, aber auch der Beifahrer und auch auf den Hintersitzen muss man sich anschnallen. Auch im Taxi. Da gibt's ja sehr 5 viele Gurtenmuffel diesbezüglich. Wie gefährlich ist das und was kann man dagegen tun? B: Das ist interessant. Leute wissen zum Beispiel nicht, welche Energie ein Körper bekommen kann während eines Aufpralls. Zum Beispiel ein kleines Kind, das auf der Rücksitzbank sitzt von ca. 30 Kilo kann im Fall eines Aufpralls das 30bis 50-fache an Belastung dazu bekommen und das heißt dann ein kleiner Elefant von ca. einanderhalb Tonnen würde dann auf einen Rücksitz draufdrängen und draufdrücken und würde den Vordermann dann quasi einquetschen. Ist das ein Erwachsener, dann hätte das ganze Spiel dann eine, eine drei Tonnen schwere Belastung und das schaut dann schon anders aus. I: Also das sollte man auf jeden Fall bedenken. B: Bitte ja. I (gleichzeitig): Und sich vielleicht doch anschnallen. B: Ja. I: Frau Seidenberger, herzlichen Dank für den Besuch bei uns im Studio. B (gleichzeitig): Danke. Anmerkungen Das Konzept dieses Interviews ist angemessen. Es besteht ja auch nur aus zwei Bausteinen: – Warum ist es so und Wie kann es verändert werden? Mit der zusätzlichen Frage, die sich auf die Mitfahrer bezieht, aber im Grunde die beiden ersten Fragen nur auf eine weitere Gruppe ausdehnt. 1: Besser wäre, wie immer, nur eine Frage zu stellen, und ganz gewiss zu Beginn eines Interviews. Diese dann so zu formulieren, dass die Expertin gezwungen wird, eine Erklärung aus psychologischer Sicht zu liefern – und nicht wie hier, eine weitere Beschreibung zu geben. 2: I hat vermutlich eine andere Antwort erwartet. Da diese nicht kommt, versucht er mit eigenen Ideen seine Frage anzureichern, was leider zu mehreren Impulsen führt: Bevormundung, unbequem, Hirn ausschalten. Da die Expertin offensichtlich Führung braucht, wäre es besser, seine Frage ganz knapp zu wiederholen: „Und wie erklärt nun die Psychologie dieses Verhalten?“. 3: I erhält wieder keine Erklärung, sondern nur eine Beschreibung. Das macht ihn unsicher, das will er tarnen, möglicherweise auch die Expertin schonen, das führt zu mehr eigenem Reden, das aber leider nicht in einer Frage mündet. Und die Psychologin antwortet mit technischen Vorschlägen. Hier müsste der I aufgrund seiner Recherche doch noch einmal nachfragen, wie Einstellungen denn verändert und in Verhalten überführt werden können (Aufklärung?, Strafen im Zusammenhang mit einem Kosten-Nutzen-Kalkül?). 4: Leider lässt sich der I zu einer technischen Erörterung verführen; stellt keine Frage. 5: Die Zusatzfrage sollte knapper (die beiden Aspekte getrennt) gestellt werden. „Jetzt müssen sich ja alle Passagiere im Auto anschnallen. Tun sie aber nicht (noch weniger als die Fahrer?). Wie gefährlich ist das?“ Und dann: Was tun? Zu den modischen Formulierungen gehört „Wie gehen Sie damit um?“ Leider ist es keine präzise Frage, weil an die Stelle des Umgangs eine spezifische Tätigkeit, z.B. beurteilen, bewerten, fertig werden gehört. Entsprechend genauer ist auch die Antwort. Zum Abgewöhnen noch ein um „eigentlich“ verschärftes Beispiel: „Mario Basler, Sie sind zur Zeit in aller Munde. Wie gehen Sie eigentlich damit um?“ (ZDF, „morgenmagazin“, 17. 3. 1994.) Eines der oben genannten Probleme tritt auch in dem nächsten Interview auf: zu viele Themen. Eben weil jedes für sich genommen interessant ist und die Antworten zudem informativ, werden die Empfänger auf Nachfragen warten; aber während sie dies tun, kommt ein neues Thema. Wie wir an den Reaktionen auf das Interview in den Trainings erkennen konnten, führt das zu dem Eindruck, ein interessantes Interview gehört zu haben, aber leider konnten die Journalisten nur wenig von den Inhalten wiedergeben. Die Journalistin steckt in einem typischen Dilemma: Nun habe ich ihn schon einmal und er ist sachkundig, da muss ich die Gelegenheit nutzen und zu unterschiedlichen Themen Fragen stellen – eben weil sie alle wichtig und interessant sind. Das kann auch der Auftrag der Redaktion sein. Das ist journalistischer Alltag, aber leider bleibt bei den Empfängern zu wenig hängen. Das Interview hat keinen Schwerpunkt, deshalb hilft nur eines: heroische Beschränkung. Interview 6 ORF ZIB 2, 24. 5. 2004 Ingrid Turnher – Claus J. Raidl Eingespielter Bericht über steigenden Eisenerzund Stahlbedarf in China und Indien, mit der Folge, dass die Preise für Rohstoffe und Waren, wie z.B. Automobile, steigen (werden). Der Beitrag endet mit der Frage, ob nicht angesichts der hohen Öl-Nachfrage alternative Energien größere Bedeutung gewinnen werden. I: Ich begrüße nun Claus Raidl im Studio, Chef von BöhlerUddeholm, guten Abend. B: Guten Abend. I: Herr Raidl, als Chef eines der weltweit führenden Edelstahlunternehmen, wie macht sich das denn bei Ihnen in der Firma be- 1 merkbar? B: Das ist richtig, es steigen auch bei uns die Rohstoffpreise, das ist Schrott und Legierungsmetalle wie Nickel, Chrom, Vanadium, aber wir können diese Preise an die Kunden weitergeben. Denn jeder versteht, wenn unsere Einsatzstoffe steigen, dass wir unsere Verkaufspreise erhöhen müssen. Und dies gelingt uns, wir haben Produkte, die stark nachgefragt werden, wir sind in unserer kleinen Nische der Stahlwelt, wie man so, so schön sagt, Weltmarktführer, und haben die Stärke, am Markt diese Preise auf die Kunden überzuwälzen. I: Also Sie sind da einer derjenigen, der mit der Knappheit ein gutes Geschäft macht, äh, anderswo macht man sich große Sor gen, z.B. in Deutschland, wo vereinzelt schon gemunkelt wird, wenn's so weitergeht, dann stehen bald die ersten Bänder in der 2 Autoindustrie still. Halten Sie das für denkbar? B: Also ich glaube nicht, dass die Bänder in der Autoindustrie stillstehen werden, aber, es kommt zu einer Neuverlagerung der Gewichte, das ist richtig. Es werden Länder mit Rohstoffen, Brasilien, Russland, wo Erze sind, wo Kohle ist, werden wichtiger, die Rohstoffe werden sicher teurer und werden so wie Öl länger auf einem hohen Niveau bleiben. Ich persönlich bin überzeugt, dass Öl, jetzt hamer's gehört, bei 41 Dollar rund ist, wird sicher die nächsten zwölf, achtzehn Monate bei dreißig, fünfunddreißig Dollar bleiben: Das ist ein spekulatives Element, aber auch die Nachfrage steigt. Und wie im Beitrag gesagt wurde, China verbraucht sehr viel Öl, verbraucht sehr viel Stahl, so dass diese Rohstoffe wieder attraktiver werden, und aber auch im Preis hoch bleiben werden. I: Wie konnte sich, äh, die Forschung, die Wirtschaftsforschung, die uns ja weismacht, sie könne das Wirtschaftswachstum auf 3 Zehntelprozentpunkte genau voraussagen, beim Wachstum in China dermaßen verschätzen, das haben ja offenbar alle unterschätzt. B: Also es ist richtig, die, die Zehntelprozent bei den Prognosen waren immer nur ein Ergebnis des Rechenganges, nicht der Beweis der Genauigkeit, das muss man immer wissen, aber Sie haben Recht, man hat die, das Wachstum in China völlig unterschätzt. Ich war grad vor vierzehn Tagen bei unseren Niederlassungen in Chin… äh, in eine Woche lang war ich in China, an verschiedenen Standorten, und hab gesehen, wie viel dort gebaut wird. Aber auch die Bedürfnisse der Menschen sind so, dass sie sich endlich gewisse Dinge leisten können, so dass die Nachfrage nach Haushaltsgeräten, nach Autos, Infrastruktur weiter steigen wird, so dass wir damit rechnen müssen, dass China bei Stahl, bei Erdöl, aber auch bei anderen Metallen eine große Sogwirkung ausüben wird, was dazu führt, dass die Preise hoch bleiben werden, aber auch durch diese Sorgwirkung, haben wir, was die Wirtschaftswissenschaftler „handelsschaffende Effekte“ nennen, haben wir sehr positive Auswirkungen. Wir z.B. verdienen in China gut, wir liefern sehr viel nach China, aber auch Österreich insgesamt hat gute Exportraten mit China. I: Wird da aber nicht früher oder später der Konsument auch, also bei Öl spürt er's ja täglich an der Tankstelle, wird der Kon sument nicht auch, äh, bei den anderen Rohstoffen die Knappheit 4 oder die starke Nachfrage irgendwann im Geldbörsl zu spüren bekommen? B: Das ist zum Teil richtig. Es wird so sein: Es wird, die Erhöhung der Ölpreise und der Rohstoffe wird einen Effekt auf die Inflation haben, in Österreich vielleicht einen halben Prozentpunkt. Und es wird, da die verfügbaren Einkommen geringer werden, weil man eben mehr ausgeben muss für Benzin oder für Stahl, es wird einen kleinen negativen Wachstumseffekt ham, aber in Summe gesehen hat dieser Boom im China für uns, aber auch für die EU insgesamt einen positiven Effekt, so wie die OstErweiterung der EU für Österreich auch einen sehr positiven Effekt hat, und weiterhin haben wird. I: Ist das, was wir jetzt erleben, Herr Raidl, etwas, was man viel- leicht vor vier, fünf Jahren noch für, äh, undenkbar gehalten hätte, nämlich die große Rückkehr der so genannten „old econo- 5 my“? B: Also es ist hier sicher so, dass die alten Industrien wieder attraktiver werden. Es hat sicher keiner den großen Wachstumsschub in China vorhergesagt, weil wir ham vor fünf Jahren in der Stahlindustrie noch über die Stilllegung von Kapazitäten gesprochen, und jetzt müssen wir schauen, dass wir alle Kapazitäten, die wir haben, ausfahren. Also hier ist sicher eine Entwicklung eingetreten, die niemand abschätzen kann. Aber so ist es. Daher kommt es darauf an, ein Wirtschaftssystem zu haben, das flexibel genug ist, möglichst rasch auf solche Entwicklungen zu reagie- 6 ren. I: Herr Raidl, vielen herzlichen Dank für das Gespräch. B: Danke schön. Anmerkungen 1: An sich sollte ja die erste Frage die letzte Bemerkung oder gar Frage einer Anmoderation aufnehmen. Zum Glück und zum Interviewpartner passend tut das die Interviewerin hier nicht, sondern fragt viel nahe liegender, wie sich die große Stahlnachfrage in China bei dem Befragten bemerkbar macht. (Der Beitrag passt so nicht recht zum Interview.) Deshalb ist die Einstiegsfrage sinnvoll, weil zumindest die an einen Teil der Aussagen im Einspieler anknüpft. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, aus der Perspektive der Empfänger zu fragen: „Wie werden sich die gestiegenen Rohstoffpreise auf die Verbraucher auswirken?“ 2. Die Frage nimmt nichts aus der Antwort auf. Die Interviewerin missbraucht den Befragten als Auto-Experten – mit einer vorbereiteten geschlossenen Frage („Halten Sie es für denkbar“) – und folgerichtig entzieht sich der Befragte dieser Zuschreibung („glaube ich nicht“) und da er weiß, dass von ihm mehr als diese Bemerkung erwartet wird, erzählt er etwas, zu dem er sich eher berufen fühlt. Mit dieser Frage ist sie schon auf dem Weg zum Verbraucher. Da aber der Befragte aus der ersten Frage gelernt hat, als Experte für die Folgen in der Industrie befragt zu werden, antwortet er auch auf dieser Ebene: mit den ökonomischen Auswirkungen. 3. Neues Thema, das nichts mit dem vorherigen zu tun hat. Zudem ist der Befragte dafür auch nicht der geeignete Gesprächspartner. Auch hier gibt es keine Antwort auf die Frage, aber dennoch einige interessante Einschätzungen zum Chinahandel aus der Sicht des Unternehmers. 4: Endlich der Perspektivwechsel zum Empfänger (Verbraucher), leider in geschlossener Form, die es dem Befragten ermöglicht, mit einer kurzen Bemerkung („zum Teil richtig“ – was genau?) das Thema zu erledigen und zu einer betriebs wirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Perspektive zurückzukehren. Die Interviewerin lässt ihn leider gewähren. 5: Wieder kein Anschluss an die „Antwort“, stattdessen ein fünftes, auch sehr interessantes Thema. Die optimistische Sicht des Befragten kann so nicht stehen bleiben. Die Interviewerin sollte nochmals auf die Folgen für die Verbraucher eingehen. Leider stellt sie stattdessen eine Frage zu einem neuen Thema, das ein eigenes Interview erforderte. (Man könnte dann nämlich fragen, ob wir die stillgelegten Kohlegruben wieder hochfahren müssen.) 6: Was immer das heißen mag. Aber es ist zu spät für eine Nachfrage. Interessante Informationen; die Interviewerin hat sich vorher gute Fragen überlegt, sie aber leider einfach nacheinander gestellt, ohne auf die Antworten des Befragten einzugehen. Das ist im engeren Sinn kein Interview, das sind „Fragen an...“. Konzept: Zusammenfassung Ungeachtet der in vielen Fällen gegebenen Zeitnot – hier ein Vorschlag für die optimale Vorbereitung eines Interviews.
--Was folgt für die nonverbale Kommunikation? --Entwickeln Sie Erwartungen über mögliche Verläufe des Interviews: Welche Antworten wird der/die Befragte wohl geben? Wie fragen Sie dann weiter? --Richten Sie sich auf den für Ihr Informationsziel ungünstigsten Verlauf des Interviews ein. Haben Sie Fragen für den Fall parat, dass die Befragte mauert oder viel redet; bereiten Sie sich mit zentralen Fragen auf den Fall vor, in dem der/die Befragte zügig antwortet, – statt vor lauter Staunen nicht zu wissen, wie es weitergehen soll. --Je genauer Sie sich Ihre Fragen auf einem Zettel notiert haben, desto stärker werden Sie sich daran halten. Das führt vielfach zu einem bloßen Abhaken – die Empfänger erfahren wenig über Vieles. Also: nur Stichworte („Punkte“) für Fragen auf dem Zettel notieren. Interview --Aufgrund des Zeitdrucks konzentriert sich der Interviewer auf die Formulierung der Frage. Er nimmt daher nur Teile der Antwort des Befragten auf, weil seine Aufmerksamkeit schon der nächsten Frage gilt. Das führt zu einer mangelnden Flexibilität, vor allem zu unzureichendem Nachfragen. Das gilt insbesondere für offene Fragen, auf deren Antwort der Interviewer eine ganze Reihe von Nachfragen stellen könnte. --Ratschlag: Hören Sie genau zu. Merken Sie sich, während der Befragte antwortet, ein wichtiges Wort oder Formulierung (ähnlich dem Markieren von Wörtern mit einem Textmarker). Dann können Sie ruhig zuhören und stellen dann aus dem „TextmarkerStichwort“ die nächste Frage. |
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