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Strukturationstheorie als Erklärungsmodell für organisationalen Wandel

Die Strukturationstheorie des britischen Soziologen Anthony Giddens liefert einen elaborierten Ansatz, um den Zusammenhang von Struktur und Handlung zu erklären (vgl. Giddens 1984)[1]. Struktur und Handlung werden hier als komplementäre Faktoren betrachtet: Struktur beeinflusst das menschliche Verhalten, gleichzeitig sind Menschen dazu fähig, die sozialen Strukturen, in denen sie sich bewegen, zu gestalten. Die Strukturationstheorie ermöglicht es, zwischen Struktur und Handlung auf theoretischer ebenso wie empirischer Ebene zu vermitteln und die Grenzen von primär handlungstheoretischen bzw. primär systemtheoretischen Denkweisen zu überwinden (vgl. Thießen 2011: 124). Die Strukturationstheorie wurde aufgrund dieser Leistungsfähigkeit breit in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen rezipiert (vgl. Ortmann et al. 1997; S. 315; Zerfaß 2004: 392). Insbesondere auch in der Kommunikationswissenschaft, die lange in primär systemtheoretische Ansätze gegenüber primär handlungstheoretische Ansätze aufgespalten war (vgl. Röttger 2004: 12), wurde die Strukturationstheorie durch eine Reihe von Forschern für Fragen der Journalismusund PR-Forschung aufgriffen (vgl. Thießen 2011; Weder 2010; Wyss 2004, Zerfaß

2004; Zühlsdorff 2002; Neuberger 2000; Röttger 2000, Theis 1993). Auch für die Organisationskommunikation bildet die Strukturationstheorie eine stabile Basis, bietet sie doch

„einen Zugang zu Organisationen, der Akteure und Strukturen noch enger zusammenführt“ (Weder 2010: 102).

Im Kern von Giddens' Konzept steht die „Dualität der Struktur“, in der Struktur sowohl das Medium als auch das Ergebnis des Handelns ist: „One of the main propositions of structuration theory is that the rules and resources drawn upon in the production and reproduction of social action are at the same time the means of system reproduction (the duality of structure)“ (Giddens 1984: 19).

Akteure greifen in ihrem Handeln auf Strukturen zurück und produzieren und reproduzieren damit die Bedingungen, die Handlungen ermöglichen. Reflexivität und Rekursivität sind dabei wesentliche Kernbegriffe: Reflexivität meint, dass Akteure ihr eigenes Handeln permanent beobachten und sich in ihrem Verhalten darauf beziehen (vgl. Giddens 1984: 3). Dabei richten sie sich an vorgegebenen Strukturen oder dem Handeln anderer aus. Das Ergebnis des Handelns geht jedoch in die Strukturen ein und reproduziert diese (Rekursivität): „Human social activities […] are recursive. That is to say, they are not brought into being by social actors but continually recreated by them via the very means whereby they express themselves as actors“ (Giddens 1984: 2).

Handlung und Struktur stehen sich somit nicht konkurrierend gegenüber, sondern setzen sich wechselseitig voraus. Danach ist das Verhältnis als immanentes Wechselspiel von gesellschaftlichen Strukturen, die handlungsprägend sind, sowie Handlungen von Akteuren, die wiederum gesellschaftliche Strukturen beeinflussen, zu verstehen. Strukturen – und auch organisationale Strukturen – sind damit nichts fest Stehendes, sondern werden kontinuierlich im Handeln reproduziert (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3: Prozess der Strukturierung

Quelle: Zerfaß 2009: 39

Gemeinsame Strukturen befähigen überhaupt erst zum Handeln und sorgen dafür, dass gesellschaftliche Interaktionen gelingen. Giddens unterscheidet dabei in Regeln und Ressourcen als strukturbildende Elemente (vgl. Giddens 1984: 17ff.). Regeln können etwa Gesetze sein, d.h. formal kodifizierte Regeln, deren Missachtung sanktioniert ist. Auf Organisationen bezogen können dies arbeitsrechtlich festgelegte Verhaltensnormen ebenso wie freiwillige Selbstverpflichtungen wie Verhaltenskodizes (codes of conduct) für bestimmte Berufsgruppen sein. Ressourcen sind hingegen die Möglichkeiten, auf die die Handelnden bei ihrer Zielerreichung zurückgreifen können. Dies umfasst die Herrschaft über materielle Dinge (allokative Ressourcen) ebenso wie die Herrschaft über andere Menschen (autoritative Ressourcen), z.B. Mitarbeiter und Untergebene (vgl. Giddens 1984: 33f.).

Strukturen ermöglichen intersubjektive Orientierung durch gemeinsame Symbole und Werte und akzeptierte Koordinationsformen. Dadurch werden die Handlungen einzelner Akteure interpretierbar und anschlussfähig für Folgehandlungen. Dadurch, dass Strukturen regelmäßig im Handeln aktualisiert werden, werden sie im Alltag reproduziert. Gleichzeitig bietet sich hier aber auch die Möglichkeit der Veränderung von Strukturen. Organisationsmitglieder verfügen über Reflexionsmächtigkeit und Intentionalität und haben ein Wissen über die Struktur, in der sie handeln. Dadurch sind Akteure in der Lage, ihr Handeln im Hinblick auf ihre Intentionen zu steuern. Dies gilt auch im Hinblick auf die Erwartungen, die an die Ausübung einer bestimmten Mitgliedschaftstrolle in einer Organisation gestellt werden: Verhaltenserwartungen können auch aktiv gestaltet werden, den Rolleninhabern bleibt noch Gestaltungsspielraum. Zu Rollenerwartungen stellt Zerfaß fest: „Sie sind letztlich nichts anderes als Handlungsschemata bzw. Strukturen, deren Aktualisierung in systemisch bestimmten Kontexten von Rollenträgern eingefordert wird“ (Zerfaß 2004: 112).

Indem Giddens dem Individuum Handlungsmächtigkeit zuspricht, wendet er sich gegen deterministische Strukturansätze. Existierende Strukturen erzeugen nicht automatisch fügsame Organisationsmitglieder – vielmehr lassen sich Strukturen von den Organisationsmitgliedern auch zur Verfolgung eigener Zwecke nutzen. Nach Giddens sind Regeln, wie sie in Organisationen zu finden sind, keine festen Regeln, sondern lediglich „social interpretations of rules“ (Giddens 1984: 21). Dies hat zweierlei zur Folge: zum einen muss der Begriff der verhaltenssteuernden Regeln weiter gefasst werden und nicht nur die formal kodifizierten Regeln, d.h. die schriftlich niedergelegten Handlungsanweisungen und Gesetze, deren Missachtung sanktioniert wird, sondern sämtliche handlungswirksamen Regeln umfassen. Dazu gehören auch Alltagsregeln und übliche Verhaltensweisen, die als gängige Praxis vom Handelnden widerspruchslos übernommen werden. Zum anderen hebt Giddens damit hervor, dass Regeln je nach Interpretation grundsätzlich offen für verschiedene Handlungsweisen sind. Zudem hat das Wissen der Akteure um die Strukturen auch Begrenzungen in der Realität – ein Angestellter eines Unternehmens mag nicht über sämtliche Regeln, die ihn betreffen, genau im Bilde sein. Zu einem erfolgreichen Ausüben seiner Rolle kann schon eine routinemäßige, alltagstheoretische Bewusstheit über die gängigen sozialen Praktiken ausreichen. Dies kann aber auch dazu führen, dass es unintendierte Nebenfolgen des Handelns gibt, die wiederum die sozialen Strukturen verändern können und Bedingungen weiteren Handelns darstellen. Regeln und Ressourcen sind also nicht naturgegeben, vielmehr können sie jederzeit umgeschrieben und neu verteilt werden.

Struktur ist bei Giddens also immer nur insofern existent, als sie in Erinnerungsspuren vorhanden ist und sich in sozialen Praktiken realisiert. Zentrales Unterscheidungsmerkmal der Strukturationstheorie gegenüber anderen Sozialtheorien ist damit, „dass Struktur nicht als ein außerhalb des handelnden Subjekts wirkender Faktor das Handeln determiniert, sondern dass die Reproduktion von Struktur deshalb erfolgt, weil sie in der (handlungs-) praktischen Bewusstheit der Organisationsmitglieder repräsentiert ist und als Medium wirkt, an dem Handeln orientiert ist (Kieser/Walgenbach 2007: 63ff.).

Auf Organisationsebene bedeutet dies, dass organisationale Strukturen und Beziehungen in und zwischen Organisationen nicht als gegeben vorausgesetzt werden können, sondern kontinuierlich im Handeln reproduziert werden.

  • [1] In eine ähnliche Richtung argumentieren auch die Arbeiten des deutschen Soziologen Uwe Schimank (2001).
 
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