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Politik und Regieren in Niedersachsen
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4 FazitDass die Zivilgesellschaft vielfältige Betätigungsfelder bietet und zivilgesellschaftliches Engagement verschiedenste Ausprägungen annehmen kann, wird auch in Niedersachsen deutlich. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten reichen auch hier von der bloßen Mitgliedschaft in einem Verein bis hin zu zwar ehrenamtlichem, aber geradezu professionellem Engagement und decken damit in Bezug auf das Aktivitätsniveau eine äußerst breite Spanne ab. Zivilgesellschaftliche Betätigung ist sowohl im Sportverein als auch im Nachbarschaftstreff möglich, kann soziale wie kulturelle Interessen verfolgen oder sich als politisches Engagement äußern und in Protesten und Protestbewegungen ihren Ausdruck finden. Als starke Seite der niedersächsischen Zivilgesellschaft zeigt sich die Vereinsstruktur, die eine hohe Dichte und Vielfältigkeit, gerade im sportlichen wie kulturellen Bereich, aufweist. Der Ausbau der Organisationsstrukturen und Projekte auf regionaler und Landesebene in den vergangenen Jahren zur Stärkung der Zivilgesellschaft, wie etwa mit dem niedersächsischen Freiwilligenserver, stabilisieren die bestehenden Strukturen und erleichtern den Zugang zu ehrenamtlichem Engagement. Als Schwachstellen können noch immer, trotz ihres zunehmenden Ausbaus, die direktdemokratischen Partizipationsmöglichkeiten engagierter BürgerInnen gelten. Denn insbesondere im Vergleich zu Bayern, eines der „Spitzenreiter“-Länder im Bereich direkter Demokratie, aber auch im Bundesdurchschnitt bietet Niedersachsen faktisch, gemessen an dem Erfolg der angestrebten Bürgerbegehren, deutlich geringere Mitbestimmungsmöglichkeiten. Das Verhältnis von niedersächsischer Zivilgesellschaft und der Landesregierung war lange Zeit ein eher antagonistisches: Immer wieder kam es zu harscher Kritik, gegenseitigen Vorwürfen, langen und zähen Auseinandersetzungen. Zentrale Akteure der Zivilgesellschaft wie Bürgerinitiativen, Protestgruppen und soziale Bewegungen griffen die Verwaltung und die Politik immer wieder an, fühlten sich aber auch von Landesseite ignoriert, eingeschränkt, sogar aktiv bekämpft – teilweise eine nicht gänzlich falsche Sichtweise. Zwei historische Beispiele dieses konflikthaften Verhältnisses wurden mit dem Schulstreit und den Anti-AKW-Protesten ausführlicher vorgestellt. Allein: Genau das ist die Aufgabe einer kritischen, aktiven Zivilgesellschaft in einem demokratischen System. Die Organisation und Artikulation von Interessen der einzelnen Bevölkerungsteile, die nicht mit denen der politischen Landesführung übereinstimmen müssen. Der Einund Widerspruch, das Unbequem-Sein, die Inanspruchnahme eines selbstorganisierten Raumes, idealerweise unabhängig von staatlichen Strukturen – all das sind letztlich Kennzeichen eines vitalen und demokratischen Gemeinwesens. Und auch das zeigen die von uns skizzierten Proteste: Die Zivilgesellschaft ist ein politischer Akteur, der durchsetzungsfähig sein kann, der das politische Klima und die Richtung der Landespolitik über Jahre und Jahrzehnte prägen kann und eben dies auch getan hat. Heute scheint sich das Verhältnis von Land und Zivilgesellschaft geändert zu haben: Zivilgesellschaftliche Gruppen werden gelobt, unterstützt und finanziell gefördert, engagierte Personen mit Preisen und Urkunden ausgezeichnet. Das Land Niedersachsen sorgt sich um seine Zivilgesellschaft, versucht immer wieder, sie zu stabilisieren und auszubauen. Dieses Verhalten hat unzweifelhaft positive Konsequenzen, erleichtert Menschen den Zugang zu zivilgesellschaftlicher Selbstbestimmung und stärkt das demokratische Bewusstsein in Niedersachsen. Allerdings darf die Stärkung der niedersächsischen Zivilgesellschaft nicht gleichzeitig mit einem Rückzug des Landes und der Kommunen flankiert werden bzw. eine ebensolche Umgestaltung vorbereiten. Zwar scheint es zunächst verlockend, staatliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten an die organisierten und vernetzten BürgerInnen selbst zurückzugeben. Der Abbau von Bürokratie und auch die Einsparung von Kosten machen diesen Weg für VertreterInnen des Landes attraktiv, gleichzeitig scheint man so auch den tatsächlichen Einfluss und die Mitbestimmung der Engagierten zu stärken. Allerdings ist eine solche Umgestaltung nicht durchführbar, ohne dass man langfristig die positiven Effekte der Zivilgesellschaft wieder riskiert. Untersuchungen in niedersächsischen ressourcenschwachen Stadtvierteln haben gezeigt, dass insbesondere in Vierteln, in denen eine staatlich bereitgestellte und öffentlich finanzierte Infrastruktur zur Verfügung steht, auch das Engagement von sozial Benachteiligten gedeihen kann. Wo eine staatlich geförderte Infrastruktur mit leicht zugänglichen, kostenlosen Räumlichkeiten und professionellen SozialarbeiterInnen fehlt, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit für engagementferne Gruppen, doch noch den Zugang zur Sphäre der Zivilgesellschaft zu finden. Um den sozialen Bias der Zivilgesellschaft in Niedersachsen nicht zusätzlich zu verschärfen, ist also eine massenhafte Übertragung von Aufgaben des Landes an die Zivilgesellschaft bzw. ein Rückzug des Staates nicht zu empfehlen. Vielmehr sollten noch mehr Gruppen und Vereine unterstützt und gefördert werden, denn gerade in sozial benachteiligten Quartieren hat sich gezeigt, dass alteingesessene Vereine oft einen besseren und natürlicheren Zugang zu Menschen in exkludierten und prekären Lebensumständen aufweisen. Die Förderung bereits lang etablierter Vereine wäre somit oft effizienter als bspw. teure Best-Practice-Projekte, die z.T. ohne eine genaue Analyse der lokalen Verhältnisse ein bestimmtes Vorgehen auf andere Viertel übertragen und dann bei der Ansprache der ansässigen Bevölkerung vor unerwartete Probleme gestellt werden können. |
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