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7 Kirchen und Religionsgemeinschaften

Im Jahr 1939 waren 78,6 Prozent der Menschen, die auf dem Territorium des heutigen Niedersachsen lebten, Angehörige evangelischer Kirchen. 16,4 Prozent bekannten sich zur katholischen Kirche und knapp fünf Prozent gehörten einer anderen oder keiner Kirche an.77 Katholiken lebten fast ausschließlich in Gebieten, die schon seit dem 17. Jahrhundert katholisch waren.78 Die calvinistischen Christen hatten in Ostfriesland ihre Hochburg, die übrigen Gebiete waren von lutherischen Christen bewohnt. Diese religiöse Dreiteilung hat sich bis heute erhalten, sie ist aber infolge der Migrationsströme seit 1944 stark verwischt. Prägend für das heutige Niedersachsen ist, dass es keine rein protestantischen Gegenden mehr gibt, sondern dass alle Regionen in religiöser Hinsicht „durchmischt“ sind.79 Der landesweite Katholikenanteil stieg bis 2013 auf 18,1 Prozent. Ursache hierfür waren die vielen katholischen Vertriebenen aus Schlesien, später der Zuzug von ebenfalls zumeist katholischen Arbeitsimmigranten (aus Italien, Spanien und Kroatien). Der Protestantenanteil sank über 66,1 Prozent im Jahre 1987 auf 50,5 Prozent im Jahre 2013. Bereits 1987 waren 1,4 Prozent der Bevölkerung Moslems als Folge der Zuwanderung aus der Türkei. 2014 lebten rund 250.000 Muslime in Niedersachsen, deren Glaubensübung von ca. zweihundert Moscheevereinen organisiert wird. Insgesamt hatte sich der Anteil der Konfessionslosen und der nicht-christlichen Religionen Menschen in Niedersachsen von 15,2 Prozent im Jahre 1987 auf 29,7 im Jahre 2003 fast verdoppelt. Bis 2013 erfolgte eine weitere Steigerung auf 31,4 Prozent.80

Alles in allem ist zu konstatieren, dass sich die Stellung der Kirchen in Deutschland und damit auch in Niedersachsen seit den 1960er Jahren von ehemals der Gesellschaft vorgelagerten Institutionen zu gesellschaftlichen Großorganisationen veränderte. Trotz Mitgliederschwunds und eines unbestreitbaren Bedeutungswandels sind Kirchen nach wie vor auf vielfältige Weise in der niedersächsischen Gesellschaft präsent und mit ihr verflochten.

Evangelische Kirchen

Die „Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen“ entstand 1971. Zu ihr gehören die vier Evangelisch-lutherischen Landeskirchen Hannover (2,8 Mio. Mitglieder), Oldenburg (440.000), Braunschweig (370.000) und Schaumburg-Lippe (61.000) sowie die Evangelisch-reformierte Kirche mit Sitz in Leer (188.000).81 Die hannoversche Landeskirche dominiert damit in Niedersachsen mit rund drei Viertel der evangelischen Kirchenmitglieder. Die fünf Kirchen mit zusammen knapp 3,8 Mio. Mitgliedern hatten sich zusammengeschlossen, um ihre Interessen gegenüber dem Land Niedersachsen gemeinsam zu vertreten und Gemeinschaftsaufgaben wahrzunehmen sowie um die Aufgaben des „Loccumer Vertrags“82 zusammen zu erfüllen.

Der Loccumer Vertrag regelt die rechtlichen Beziehungen zwischen den evangelischen Kirchen und dem Land Niedersachsen und wurde am 19. März 1955 im Kloster Loccum unterzeichnet. In dem ersten Staatskirchenvertrag, der nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen wurde, verpflichten sich das Land und die Kirchen zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche. Sie regelten im Vertragswerk Fragen wie die Theologen-Ausbildung, den Re- ligionsunterricht an Schulen oder die Denkmalpflege. Der Loccumer Vertrag diente als Mustervertrag für alle weiteren Staatskirchenverträge in Deutschland.83

Im März 2014 scheiterte die Idee einer landesweiten gemeinsamen Kirche in Niedersachsen.84 Die hannoversche Synode hatte lange gehofft, dass sich die fünf Landeskirchen zu einer „Evangelischen Kirche in Niedersachsen“ zusammenschließen. Dies scheiterte allerdings am Widerstand der vier kleineren Kirchen. Man einigte sich stattdessen auf einen neuen Konföderationsvertrag, der bspw. den Wegfall des gemeinsamen Parlaments, der sog. Konföderationssynode, vorsieht.85

Zu den Einrichtungen und Gremien der damit immer noch aktuellen „Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen“ zählen der Rat der Konföderation, zu dem u.a. die leitenden Theologen der Mitgliedskirchen gehören, eine Geschäftsstelle in Hannover, die Evangelische Erwachsenenbildung, der Kirchliche Dienst in Polizei und Zoll, der Evangelische Kirchenfunk Niedersachsen (ekn) und der Verband Evangelischer Publizistik Niedersachsen-Bremen. Ein Beauftragter vertritt die Konföderation beim Niedersächsischen Landtag und in schulischen Angelegenheiten. Die durchaus gewollte enge Zusammenarbeit von Staat und Kirche ist tragendes Element des Kirchenlobbyismus.

Der soziale Dienst der evangelischen Kirchen ist die Diakonie.86 Zunächst war die

„Diakonie in Niedersachsen“ als Zusammenschluss der fünf diakonischen Werke der evangelischen Kirchen in Niedersachsen zum 1. Juli 2010 entstanden. Allerdings war dieser Fusion kein langes Leben beschieden: Das Diakonische Werk der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Oldenburg löste sich zu Beginn des Jahres 2014 wieder aus dem gemeinsamen Projekt heraus und arbeitet seither selbstständig weiter. Die vier anderen Diakonischen Werke der Landeskirchen Hannover, Braunschweig und Schaumburg-Lippe sowie der reformierten Kirche gründeten zum gleichen Zeitpunkt als neue Organisation das „Diakonische Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen e.V.“.87

Trotz der wechselnden Organisationsstrukturen ist die Diakonie ein wichtiger Sozialpartner der Landesregierung. Mit über 3.000 Einrichtungen, in denen rund 40.000 hauptberuflich Beschäftigte und über 20.000 freiwillige Helferinnen und Helfer tätig sind, gehört das Diakonische Werk der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover e.V. zu den größten Wohlfahrtsverbänden in Niedersachsen.88 Diakonie umfasst Aktivitäten von Freiwilligen, Selbsthilfegruppen und von diakonischen Einrichtungen. Das Diakonische Werk der Landeskirchen unterstützt und koordiniert als Dachverband die ihm angeschlossenen Einrichtungen und die Fachverbände, die auf Landesebene organisiert sind und u.a. in den folgenden Bereichen wirken: ambulante Pflege, Jugendhilfe, Krankenhäuser sowie Wohnungsbzw. Existenzsicherung.

 
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