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2 Wer waren die Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen?5

Der Vergleich der Biografien der niedersächsischen Ministerpräsidenten zeigt, dass die Karriereverläufe bis zum Amtsantritt mit der Zeit immer zielgerichteter und damit kürzer wurden. Im Verlauf der bundesrepublikanischen Jahrzehnte wurde Politik zunehmend zu einem Beruf, die Sozialisation in Parteien eine feste Voraussetzung für den Erwerb des höchsten Amtes im Land. Von Generation zu Generation änderten sich Vorwissen und Sozialisation, das prägte das öffentliche Erscheinungsbild des Amtes nachhaltig.

Dass die Generationszugehörigkeit der niedersächsischen Ministerpräsidenten eine zentrale Rolle für deren Biografien spielte, sollen mehrere Beispiele zeigen. So hat Hinrich Wilhelm Kopf6 die meisten Brüche, Umbrüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts miterlebt: den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution 1918, die Krisen und schließlich das Scheitern der Weimarer Republik, die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933, den Weg in den Zweiten Weltkrieg, dann den Krieg selbst, schließlich den Neuaufbau in der Nachkriegszeit. Er erlebte auf diese Weise drei politische Systemwechsel: vom Kaiserreich zur Republik, von der Republik zur Diktatur und von der Diktatur über das Besatzungsregime zur Demokratie. „Diese Zeitenwenden“, so der Historiker Frank Bajohr, „gehen ganz überwiegend mit Lebenswenden der biographischen Personen einher, die in ihrem Leben während des 20. Jahrhunderts mit zahlreichen Kontinuitätsbrüchen konfrontiert waren.“7 Auf Kopf trifft diese „Koinzidenz von Zeitenund Lebenswenden“8 zu. Beispielsweise gab das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, welches dem nationalsozialistischen Regime politisch motivierte Entlassungen ermöglichte, seinem Leben eine neue Richtung: Kopf, von 1928 bis 1932 jüngster Landrat Preußens, wurde mithilfe dieses Gesetzes zum 13. März 1934 in den endgültigen Ruhestand versetzt und gründete daraufhin mit einem anderen ehemaligen Landrat in Berlin eine Firma im Bereich der Grundstücksund Vermögensverwaltung.

Neben Kopf haben auch Heinrich Hellwege, Georg Diederichs und Alfred Kubel die Zeit des „Dritten Reiches“ im (jungen) Erwachsenenalter miterlebt.9 Und auch für sie gilt, dass politische Entwicklungen Einfluss auf ihre Biografien nahmen. So resultierte bspw. Kubels Bereitschaft, nach 1945 am Aufbau eines demokratischen Staates mitzuwirken, aus seinen Erfahrungen der Verfolgung und Willkür, die er unter dem NS-Regime hatte machen müssen. Alles in allem führte die „Macht der Zeitverhältnisse“ und damit das Zusammentreffen von individueller und allgemeiner Geschichte dazu, dass die Biografien von Kopf, Hellwege, Diederichs und Kubel weitaus mehr Stationen aufweisen als die Biografien derjenigen niedersächsischen Ministerpräsidenten, die über keine oder zumindest über keine direkten Kriegserfahrungen verfügten. Ernst Albrecht, Jahrgang 1930, ist hier ein Grenzfall10, aber für seine Nachfolger im Amt des Niedersächsischen Ministerpräsidenten kann man zweifellos festhalten, dass ihre Biografien weitaus weniger bzw. weniger dramatisch als diejenigen von Kopf, Hellwege, Diederichs und Kubel durch gesellschaftspolitische Entwicklungen geprägt wurden.

Doch es sind nicht nur die umfangreicheren und komplexeren Lebensläufe, die eine Trennlinie ziehen zwischen den Regierungschefs, die der Kriegsgeneration angehören, und denen, die zur Nachkriegsgeneration zählen.11 Für die Politiker, die die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg aktiv miterlebt haben, kommt hinzu, dass ihnen die sog. Stunde Null gewiss ungeahnte Aufstiegsmöglichkeiten bot. So fand sich z.B. Hinrich Wilhelm Kopf, der erst im Januar 1945 mit einem Treck von Oberschlesien aus in Richtung Westen aufgebrochen war, wenige Wochen später im Amt des Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Hannover wieder, von wo aus er eine rasante politische Karriere starten konnte.

Für die Politiker der Nachkriegsgeneration öffnete sich kein derartiges Gelegenheitsfenster – sie mussten ihren Aufstieg aus eigener Kraft oder mithilfe von Fürsprechern schaffen. Für ihre beruflichen Biografien gilt: „[…] Karrierewege und Rekrutierungskanäle etablierten und professionalisierten sich zunehmend, Parteiapparate und Jugendorganisationen gewannen an Gewicht, politische Karrieren verliefen mehr linear als über Umwege.“12 Damit ging ein verändertes Politikverständnis der Ministerpräsidenten einher: Spätestens seit 1990, als Gerhard Schröder Ernst Albrecht ablöste, wandelte es sich „von der demokratischen Berufung weit mehr zum lukrativen Beruf“.13 Hatten die frühen Regierungschefs noch mehrere Jahre abseits der Politik ihr Geld verdient – Georg Diederichs bspw. arbeitete als Apotheker – und während dieser Zeit keinerlei Parteiämter ausgeübt, so zeichnete sich bei den späteren Ministerpräsidenten schon früh der Beginn einer politischen Karriere ab: Schröder, Glogowski, Gabriel, Wulff und McAllister studierten zwar, arbeiteten allerdings nie oder nur für kurze Zeit in ihren entsprechenden Berufen. Zum Teil waren sie bereits früh in die Jugendorganisationen der Parteien eingetreten und hatten dort auch Ämter übernommen. Ein Beispiel hierfür ist David McAllister, der mit 15 Jahren in die Junge Union eingetreten ist, sich von seinen Eltern zum 17. Geburtstag eine Mitgliedschaft in der CDU schenken ließ und mit zwanzig Jahren Kreisvorsitzender der Jungen Union Cuxhaven wurde.14 Ähnliche Zusammenhänge lassen sich bspw. auch für Gerhard Schröder aufzeigen. Dass das Verständnis, welches diese Politiker vom Ministerpräsidentenamt entwickelten, von solch einer Berufspolitikerlaufbahn nicht unberührt blieb und ein anderes war als das ihrer Vorgänger, liegt nahe.

Damit lässt sich nun eine weitere Differenz zwischen den Regierungschefs, die der Kriegsgeneration angehören, und denen, die zur Nachkriegsgeneration zählen, aufzeigen: Für alle Ministerpräsidenten bis einschließlich Alfred Kubel gilt, dass ihr Amt den Höhepunkt und zugleich den Endpunkt ihrer politischen Karriere markierte. Georg Diederichs etwa blieb zwar noch vier weitere Jahre Landtagsabgeordneter, hielt sich dort aber nun, durch Krankheit gezeichnet, mit Zwischenrufen und Reden zurück.15 Sein Vorgänger Kopf war sogar im Amt gestorben; anders als Diederichs, der nach dem Ausscheiden aus der Politik noch Präsident des niedersächsischen Landesverbandes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) wurde16, blieb ihm die Übernahme ehrenamtlich-karitativer Posten also nicht mehr vergönnt.

Für ihre Nachfolger wurde das Amt des Niedersächsischen Ministerpräsidenten hingegen zu einer bloßen Karrierestation auf dem Weg in bundespolitische Spitzenämter. Ob Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel oder Christian Wulff – sie schafften es sehr früh nach „ganz oben“. Die niedersächsischen Regierungschefs, so fällt in diesem Zusammenhang auf, wurden im Verlauf der Jahrzehnte bei Amtsantritt immer jünger. Kopf war 53 Jahre alt, als er zum ersten Mal Ministerpräsident wurde, Hellwege 46, Diederichs und Kubel bereits 61. Schröder hingegen trat das Ministerpräsidentenamt mit 46 Jahren an, Albrecht mit 45, Wulff mit 43, Gabriel mit vierzig und McAllister sogar erst mit 39 Jahren. Er war damit nicht nur „der jüngste Ministerpräsident in der Landesgeschichte“17, sondern auch „Deutschlands jüngster Regierungschef“.18 Es ist also auffällig, dass das Ministerpräsidentenamt mit immer jüngeren Amtsinhabern besetzt wurde. Diese hatten anschließend noch mehr Zeit für weitere Karrieren in der Politik – der Posten des Ministerpräsidenten entwickelte sich nach und nach zum Sprungbrett in die Bundespolitik. Eine Ausnahme in der Riege der Nachkriegspolitiker stellt lediglich Gerhard Glogowski dar: Er war bereits 55 Jahre alt, als er niedersächsischer Ministerpräsident wurde, und diverse Vorwürfe, verbunden mit einem unglücklichen Krisenmanagement, beendeten seine Amtszeit nach nur 14 Monaten – kürzer als Glogowski war kein anderer Ministerpräsident in Niedersachsen im Amt.19

Trotz aller Unterschiede zwischen Politikern der Kriegsund der Nachkriegsgeneration gilt zugleich aber auch: Die biografischen Daten der niedersächsischen Ministerpräsidenten zeigen insgesamt eine große Varianz ihrer Lebenswege und Karrierestationen. Während Georg Diederichs promoviert war, hatte Heinrich Hellwege „nur“ eine kaufmännische Ausbildung absolviert. Wo Christian Wulff den Weg über die innerparteiliche Ochsentour ging, kam Ernst Albrecht als Seiteneinsteiger in die niedersächsische Politik – er konnte sich praktisch ins „‚gemachte' Nest“20 setzen. Während Alfred Kubel sich aus Altersgründen entschloss, als Ministerpräsident auszuscheiden, sollte bei Gerhard Schröder der Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erst noch kommen. Und wo Gerhard Glogowski seine Sporen in der Kommunalpolitik verdiente, da nahm sein Parteikollege Schröder den Weg über den Deutschen Bundestag in den Niedersächsischen Landtag.

Trotz aller Unterschiedlichkeit weisen die Biografien aber auch Gemeinsamkeiten auf. Zum Beispiel lassen sich für alle Ministerpräsidenten Erlebnisse, Ereignisse oder Umstände identifizieren, die ihrem weiteren Lebensweg offenkundig eine bestimmte Richtung gaben und Weichen für die Zukunft stellten. Für Alfred Kubel bspw. war ein Jugendtreffen des Zentralverbands der Angestellten (ZdA) Mitte der 1920er Jahre in Bielefeld ein Schlüsselmoment: Der Aktivismus der jungen Gewerkschafter mit ihren großen roten Fahnen und Chören faszinierte ihn und forcierte sein eigenes Engagement im ZdA, über den er bald in Kontakt mit dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) kam21, der für sein Leben eine große Bedeutung gewinnen sollte.22

Eine vergleichbare Wegmarke sieht z.B. David McAllister in seiner Kindheit – er wurde im Januar 1971 in West-Berlin geboren und lebte dort bis 1982 in der britischen Siedlung am Olympiastadion, weil sein schottischer Vater als Zivilbeamter für die britische Armee arbeitete23: „Da war die Stadt von der DDR umzingelt, das hat mich geprägt, und so lautet mein Leitsatz seither Zukunft statt Sozialismus.“24 Neben der Erinnerung an das Leben im geteilten Berlin, so berichtete McAllister vor einigen Jahren, seien es die Agitationen linker Lehrer Ende der 1980er Jahre im niedersächsischen Bad Bederkesa gewesen, die ihn zu politischem Engagement veranlasst hätten.25 Das heißt, McAllister sieht seine Biografie in starkem Maße von Erfahrungen in Kindheit und Jugend beeinflusst.

Bei Sigmar Gabriel, der eigentlich als Gymnasiallehrer arbeiten wollte, lassen sich dagegen generationelle Charakteristika erkennen: „Er gehörte einer blockierten Generation von Lehramtsstudenten an, deren Perspektiven sich nach dem Studium rapide verschlechterten. Wie viele weitere Mitglieder seiner Generation wurde auch Gabriel auf dem Karriereweg ausgebremst […]. Gabriel musste sich nach anderen Perspektiven umsehen […].“26 Ein solch alternatives Berufsfeld fand er in der Politik – 1987, als er gerade in seiner Heimatstadt Goslar sein Referendariat machte und sich bereits abzeichnete, dass er nach dem Zweiten Staatsexamen wegen der restriktiven Einstellungspraxis wohl nicht in ein Beamtenverhältnis übernommen werden würde, erhielt er sein erstes kommunalpolitisches Mandat: Gabriel wurde Kreistagsabgeordneter des Landkreises Goslar.27

Doch es waren nicht nur derartige gesellschaftspolitische Einflüsse, die für die zehn bisherigen niedersächsischen Ministerpräsidenten prägend werden sollten und die heute – im Zusammenspiel mit verschiedenen anderen Faktoren28 – ihren Aufstieg ins mächtigste Amt des Bundeslandes miterklären können. Neben Machtwillen und Durchsetzungskraft brauchten sie nämlich auch Zufälle oder glückliche Umstände, d.h. sich öffnende Gelegenheitsfenster, die sie schließlich ins Amt hievten. So profitierte Georg Diederichs von dem Tod Kopfs am 21. Dezember 1961 – bereits am 28. Dezember 1961 wählte ihn der Landtag zum neuen Regierungschef des Landes Niedersachsen. Auch David McAllister musste sich zunächst nicht dem Votum der Wähler stellen: Er übernahm den Posten des Niedersächsischen Ministerpräsidenten am 1. Juli 2010, nachdem der bisherige Amtsinhaber Christian Wulff am Tag zuvor zum Bundespräsidenten gewählt worden war. Für McAllister wie auch für alle seine Vorgänger gilt, dass sie auf ihrem Weg ins Ministerpräsidentenamt Fürsprecher und Protektoren hatten. So galt etwa McAllister schon Jahre, bevor er Wulff ablöste, als dessen „natürlicher Nachfolger“29, als „Kronprinz“.30 Denn Wulff hatte McAllister bereits 2003 den Vorsitz der CDU-Fraktion im Niedersächsischen Landtag und fünf Jahre später auch den Parteivorsitz der CDU in Niedersachsen vermacht, nachdem er ihn zunächst, im Jahr 2002, zum Generalsekretär der niedersächsischen CDU befördert hatte. „Steiler könnte eine Karriere kaum sein“, schrieb der Journalist Philipp Neumann im April 2008, also wenige Wochen bevor McAllister zum neuen Landesvorsitzenden der CDU gewählt wurde.31

Das politische Geschäft jedoch ist unerbittlich: Nach „einem der dramatischsten Wahlabende in der Geschichte der Republik“32 war klar, dass McAllister die Landtagswahl vom 20. Januar 2013 „sehr knapp“33 gegen seinen Herausforderer von der SPD, Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil, verloren hatte. Die politische Karriere von McAllister, der schon mehrere Jahre lang als zukünftiger Bundeskanzler gehandelt worden war34, erlitt damit erst einmal einen Dämpfer. Anders als bei seinem Vorgänger Wulff erwies sich das Ministerpräsidentenamt für ihn also nicht als Sprungbrett zu höheren Würden. McAllister zog stattdessen bei der Europawahl im Mai 2014 ins Europäische Parlament ein, blieb aber mit einem Bein in der niedersächsischen Politik: Auf dem Parteitag der CDU in Niedersachsen im September 2014 ließ er sich erneut im Amt des Landesvorsitzenden bestätigen.35 Dass Brüssel bei ihm nur eine Zwischenstation in der politischen Karriere sein wird, gilt beinahe als ausgemacht.36

 
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