2.2 Nationalliberale Phase
Die Aufbauphase des neuen Bundeslandes begleitete die FDP Ende der 1940er Jahre als Mitglied einer Allparteienregierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf. Diese wurde zunächst nach Gründung des Landes im November 1946 von der britischen Besatzungsmacht eingesetzt. Ihre Arbeit setzte die Allparteienregierung in ähnlicher Formation auch nach den ersten Landtagswahlen 1947 fort.8 Allerdings zerbrach die Zusammenarbeit aller Parteien im Landtag nur ein Jahr später an der Frage der Bodenreform. Besonders die FDP wollte die Pläne der Sozialdemokraten nach Sozialisierung und Demokratisierung der Wirtschaft nicht mittragen und entschied sich dafür, die Regierung zu verlassen.9 Fortan profilierten sich die Freien Demokraten als Opposition zur SPD-geführten Landesregierung. Das bürgerliche Lager, welches sich in den 1950er Jahren gleich in mehrere Parteien aufspaltete, schaffte aber 1955 einen Regierungswechsel. Im Gegensatz zur Programmatik anderer Landesverbände agierten die niedersächsischen Freidemokraten damals strikt nationalliberal.10 Ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen11 drohten auch die niedersächsischen Liberalen 1953 durch einen „faschistoiden“ Kreis ehemaliger Nationalsozialisten um den Landesvorsitzenden Artur Stegner unterwandert zu werden.12 Wie die Deutsche Reichspartei (DRP) und die Sozialistische Reichspartei (SRP), die ihre Hochburgen in den 1950er Jahren in Niedersachsen hatten, versuchte sich auch die FDP als „nationale Sammlung“ rechts von der CDU zu etablieren, um ehemaligen Nationalsozialisten eine neue Heimat und eine politische Betätigungsmöglichkeit zu bieten. Zwar trat Stegner schließlich 1954 aus der Partei aus, weil er angeblich an Finanzmanipulationen beteiligt gewesen war, die die Verschuldung des Landesverbandes zur Folge gehabt hätten.13 Doch schon im Jahr darauf erschütterte die sog. Schlüter-Affäre die niedersächsische Politik. Am 26. Mai 1955 ernannte der neue niedersächsische Ministerpräsident Heinrich Hellwege (DP), der eine Koalition aus DP, CDU, FDP und GB/BHE anführte, den Fraktionsvorsitzenden der FDP, Leonhard Schlüter, zum Kultusminister. Schlüter war während des „Dritten Reiches“ als Sohn einer jüdischen Mutter vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt gewesen, hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg aber trotzdem in rechtsextremen Parteien engagiert und war 1951 als gemeinsamer Spitzenkandidat der DRP und der „Nationalen Rechten“ in den Niedersächsischen Landtag gewählt worden. Noch im gleichen Jahr schloss er sich aber der FDP-Fraktion an, wo er bald vom einfachen Abgeordneten zum stellvertretenden und schließlich zum Fraktionsvorsitzenden aufstieg. Neben dieser Tätigkeit betrieb Schlüter in Göttingen einen Verlag, in dem er Werke rechter bis rechtsradikaler Autoren veröffentlichte. Nach seiner Ernennung zum Kultusminister kam es in Göttingen zu heftigen Protesten: Der Rektor der Universität sowie alle übrigen Mitglieder des Akademischen Senats traten von ihren Ehrenämtern zurück, die Angehörigen des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) erklärten kurz darauf ebenfalls den Rücktritt von ihren Ämtern der studentischen Selbstverwaltung und riefen ihre Kommilitonen zu einem Vorlesungsund Übungsboykott auf, an dem sich fast alle Studierenden beteiligten. Am Abend des 27. Mai 1955 marschierten zudem knapp dreitausend von damals 4.500 Göttinger Studenten in einem Fackelzug durch die Göttinger Innenstadt. Die Zahl der Solidaritätsbekundungen nahm mit jedem Tag zu. Selbst aus dem Ausland übermittelten Wissenschaftler und andere Persönlichkeiten der Universität Göttingen ihre Unterstützung. Der wachsende Widerstand – auch aus den eigenen Reihen – zwang Schlüter schließlich zur Aufgabe: Am 9. Juni 1955 erklärte er seinen Amtsverzicht. Einer „der größten politischen Skandale der Nachkriegszeit“14 war damit zu Ende.15
Trotz Stegners Abschied und der Schlüter-Affäre blieb die Programmatik der FDP Niedersachsen nationalliberal, was 1957 auch zum Ausscheiden der FDP aus der Landesregierung führte.16 Die Freien Demokraten hatten mit der Aufnahme der sechs Abgeordneten der DRP ihren Rauswurf aus der Landesregierung selbst provoziert. Die Quittung erhielten die Liberalen bei der Landtagswahl 1959: Mit 5,2 Prozent der Stimmen nahm die FDP nur denkbar knapp die erstmals Anwendung findende Fünfprozenthürde. Zum einen waren die regionalen Hochburgen der Partei in der Region Oldenburg sukzessive an die Union verloren gegangen17, zum anderen befand sich das liberale Traditionsmilieu der alten Mittelschichten in Gänze im Verfall.18
|