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4 Inund Exklusionsprozesse in Niedersachsen seit den 1960er Jahren

Seit den 1960er Jahren, nachdem die „großen“ Konflikte überwunden waren, ist die Entwicklung eines niedersächsischen Landesbewusstseins deutlich schwieriger zu fassen. Einige Schlaglichter vermögen aber ein wenig Licht ins Dunkel noch weitgehend unerforschter niedersächsischer Identitätspolitik zu bringen:

1. Die Rahmenbedingungen der Identitätspolitik eines Landes änderten sich deutlich: Zum einen nahm die Bedeutung der Bundesländer und damit einer eigenständigen Landespolitik sukzessive ab. Entscheidungsprozesse verlagerten sich auf die Bundesund vor allem auf die europäische Ebene, Bundesländer sind in vielen Bereichen nicht mehr eigen-ständige politische Akteure und damit auch nicht mehr als bedeutend identifizierbar; die Globalisierung verstärkte die Einengung der Handlungsspielräume noch weiter. Handlungsfelder, auf denen ein Land und damit auch eine Landesregierung noch ein eigenes Profil entwickeln können, sind die Infrastrukturund vor allem die Schulund Hochschulpolitik. Hier ist die Ebene „Land“ daher auch noch von vielen Menschen als eigenständig wahrnehmbar – und es ist kein Zufall, dass gerade in der Schulund Hochschulpolitik auch die heftigsten politischen Konflikte im Land entstanden und entstehen, so auch schon in den 1950er Jahren, als der Streit um die Zurückdrängung kirchlichen Einflusses in den Schulen letztlich auch die Ergebnisse des Volksbegehrens in einigen Regionen stark beeinflusste. Ansonsten war und ist die Landespolitik häufig abhängig von und verwoben mit der Bundespolitik, was sich auch in Wahlkämpfen und bei politischen Führungspersonen zeigte: Schon in den 1950er Jahren waren Landtagswahlkämpfe in Niedersachsen geprägt durch bundespolitische Überlegungen und Konflikte35, und die Wahrnehmung von niedersächsischen Landespolitikern war und ist besonders ausgeprägt, wenn diese bundespolitische Ambitionen besitzen, wie man an Ernst Albrecht und Gerhard Schröder sehen konnte.

2. Auch die „großen“ gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten den identitätspolitischen Rahmen: Manche niedersächsischen Regionen begründeten z.B. ihre kulturelle – und zunächst auch, zumindest potenziell, politische – Eigenständigkeit insbesondere durch ihre konfessionelle Prägung, wie etwa im Eichsfeld, im Emsland und vor allem im Oldenburger Münsterland, wo auch beim Volksbegehren die höchsten zustimmenden Ergebnisse erzielt wurden. Die Flüchtlingsbewegungen, die zunehmende Mobilität und der fortschreitende Entkirchlichungsprozess ließen diese regionalen Spezifika im Laufe der Zeit unbedeutender werden. Allerdings waren durch die z.T. jahrhundertealten Einflüsse auch feste mentalitäre Prägungen entstanden, die insbesondere kleinräumig noch länger wirksam waren; die Nachwirkungen waren insbesondere an den früheren Grenzen zwischen katholischen und protestantischen Regionen noch mindestens bis in die 1980er Jahre spürbar. Auf Landesebene aber spielten, nicht zuletzt auch durch die erfolgreiche Entwicklung der CDU als beide Konfessionen umfassender Volkspartei, solche konfessionellen Spannungen und Spaltungen als Identitätsmotoren eine zunehmend geringere Rolle.

3. Inwiefern die geografische bzw. geopolitische Lage Niedersachsens identitätspolitisch wirksam war, ist noch weitgehend unklar. Niedersachsen war das Land mit der längsten Grenze zur DDR. Zum einen schnitt die zunehmend undurchlässiger werdende Grenze ostniedersächsische Gebiete von ihren früheren Bezugsräumen ab, was neben vielen familiären Tragödien auch wirtschaftliche Probleme mit sich brachte; die Zonenrandförderung sollte diese Nachteile z.T. kompensieren. Identitätspolitisch wichtiger aber war die Tatsache, dass Mitglieder der politischen Elite versuchten, Niedersachsen eine eigene Rolle als Grenzland zu geben, die Identität des Landes also durch Abgrenzung nach außen zu schärfen. Ministerpräsident Hellwege etwa sprach 1955 auf dem Niedersachsentag in Oldenburg von Niedersachsen als „einem Grenzland zum Bolschewismus“ und einer dementsprechenden „deutsche[n] Aufgabe unserer niedersächsischen Heimat“.36 Axel Schildt vertrat vor einigen Jahren die These, dass der Ausbau der Grenze „Anfang der sechziger Jahre die spezifisch niedersächsische Identitätsbildung [verstärkte]“.37 Inwiefern dies auch die Wahrnehmung des Landes im Inneren wie von außen in den folgenden Jahrzehnten prägte, ist bislang noch unerforscht.

Die niedersächsische Identitätspolitik seit den 1960er Jahren bietet vor diesem Hintergrund noch ein unklares Bild, von dem erst einige wenige Mosaiksteine erkennbar sind. So spielten etwa symbolische Aktionen zur Prägung eines Landesbewusstseins für Landesregierungen der späten 1960er und 1970er Jahre, dem politischen Zeitgeist entsprechend, kaum eine Rolle. Für die Regierungen unter Diederichs und vor allem unter Kubel standen Planungen zur Steigerung der Effizienz von Wirtschaft und Verwaltung, Reformen und damit die Perspektive auf die Zukunft im Mittelpunkt ihres Handelns und nicht die Vergangenheit des Landes. Landesbewusstsein sollte so eher durch ökonomische Erfolge, soziale Verbesserungen und politische Partizipation entstehen – explizit thematisiert wurde es aber von der Landespolitik kaum.38 Auch die große Verwaltungsund Gebietsreform nahm relativ wenig Rücksicht auf regionale Befindlichkeiten – die historischen Regionen verschwanden z.T. durch die neue Strukturierung, so etwa, wenn Ostfriesland, Oldenburg und Osnabrück, die bislang eigene Verwaltungseinheiten darstellten, 1978 im neuen Regierungsbezirk Weser-Ems aufgingen. Sicher war das Ergebnis des Volksentscheids 1975 in Oldenburg und Schaumburg-Lippe, bei dem es Mehrheiten für die Wiederherstellung der alten Länder gab, auch ein Reflex auf diese Reformpolitik, aber ohne wirklich starke regional geprägte Widerstände.39 Bezeichnend ist, dass selbst die Befürworter der Volksentscheide nicht mit der Rückabwicklung Niedersachsens rechneten und dass in den Diskursen im Vorfeld historische Argumente, anders als 1956, praktisch kaum eine Rolle spielten.40

Erst mit der Regierungsübernahme durch Ernst Albrecht 1976 änderte sich dies wieder, zumindest, was die landespolitische Ebene anging. Dieser wenigstens semantische identitätspolitische Wandel hatte zwei miteinander verbundene Ursachen: Zum einen began Mitte der 1970er Jahre ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, in dem die starke Zukunftsorientierung durch wirtschaftliche und ökologische Krisenerfahrungen infrage gestellt wurde und die Hinwendung zur Geschichte zur Identitätsvergewisserung diente.41 Zum anderen war Albrecht selbst an der Vergangenheit besonders interessiert und strebte politisch an, dem Land durch eine bewusste Bezugnahme auf die Landesgeschichte ein historisch begründetes Landesbewusstsein zu verschaffen – womit er stark an die früheren Bemühungen anknüpfte. In seinen Erinnerungen begründete Albrecht diese Politik mit von ihm wahrgenommenen Defiziten in der Identifikation der Bürger mit dem Land: „[...] in der Tat war das Identitätsbewußtsein der Oldenburger, Ostfriesen, Emsländer, Bückeburger und Braunschweiger – um nur einige zu nennen – so stark, daß für viele unserer Bürgerinnen und Bürger eine emotionale Beziehung zu dem Land Niedersachsen nicht bestand. [...] Hier Abhilfe zu schaffen, sah ich als eine unserer großen Aufgaben. Mir war klar, daß dies nur gelingen konnte durch eine Rückbindung an die Geschichte, durch ein Ernstnehmen der regionalen Vielfalt unseres Landes, durch die Überwindung der bis dato selbst in der eigenen Partei immer noch spürbaren Kluft zwischen evangelischen und katholischen Regionen und durch das behutsame Wecken eines neuen Stolzes auf dieses Land.“42 Dass dies geschichtspolitisch z.T. höchst fragwürdig und auch bei den Zeitgenossen umstritten geschah, hat Manfred von Boetticher vor wenigen Jahren eingehend analysiert.43 Bezeichnend ist aber, dass zu Albrechts Verständnis von historischer Landesidentität eben auch die Anerkennung der Bedeutung der einzelnen Regionen gehörte; dies spiegelte die Akzeptanz der Vielfalt des Landes wider, die zu diesem Zeitpunkt, anders als ein Vierteljahrhundert zuvor, politisch nicht mehr gefährlich war.

 
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