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6 Polarisierung durch Tertiarisierung

Städte mit hohen Altlasten, ungünstiger Wirtschaftsstruktur, hohem Anteil absterbender Industriezweige und geringem Dienstleistungsanteil gehören zu den „Verliererstädten“ (Häußermann/Siebel 1987), weil sie mit hohen Arbeitsplatzverlusten sowie Mehrausgaben für Arbeitslosigkeit und Armut bei gleichzeitigen Einnahmeverlusten durch Steuereinbußen zu rechnen haben. Städte mit wenigen Altlasten, einer Umgebung mit hohem Freizeitwert und günstiger Wirtschaftsstruktur, mit geringem Anteil altindustrieller Produktion und hohem Dienstleistungsanteil gehören dagegen eher zu den „Gewinnerstädten“. Sie profitieren mit ihrer ansiedlungsfreundlichen Dienstleistungsinfrastruktur von der Attraktivität als Standort für Wachstumsbranchen und haben somit mehr Chancen auf Steuereinnahmenund Arbeitsplatzzuwächse, geringere Ausgaben für Arbeitslosigkeit und Armut und damit auf Entschuldung des städtischen Haushalts.

Innerhalb der Städte kommt es durch die ökonomischen Umstrukturierungen im Zuge der Tertiarisierung zu einer „Polarisierung des Arbeitsmarkts“. Auf der einen Seite stehen die geringoder unqualifizierten Arbeitskräfte, sowohl aus dem Produktionsals auch aus dem Dienstleistungssektor, mit erhöhtem Risiko von Entlassung, Arbeitslosigkeit und Lohneinbußen. Dazu gesellen sich Arbeitskräfte, insbesondere Arbeiter mit einseitigen Qualifikationen für den Produktionssektor, die nicht flexibel einsetzbar und beispielsweise wegen fehlender finanzieller Ressourcen räumlich immobil sind. Auf der anderen Seite stehen hochoder vielseitig qualifizierte Arbeitskräfte, die bei räumlicher Mobilität und entsprechender Verantwortungsbereitschaft flexibel einsetzbar sind und deshalb gute Arbeitsmarktchancen, Aussicht auf Einkommenszuwachs und Arbeitssicherheit bei hoher Arbeitszeitautonomie haben.

Aus der Polarisierung des Arbeitsmarkts und der Attraktivitätssteigerung der Innenstädte kann sich laut Dangschat eine „Polarisierung der Stadtgesellschaften“ entwickeln (Dangschat 1996).

Einkommensschwache Haushalte und Haushalte, die sich vorwiegend aus Transferleistungen finanzieren, bleiben wegen ihrer ökonomisch bedingten Immobilität in der Stadt, zumal hier auch die aufzusuchenden Behörden vorhanden sind. Einkommensstarke Haushalte ohne Kinder, junge Professionelle und zahlungskräftige Senioren suchen hochwertigen Wohnraum in urbaner Umgebung und ziehen in wiederbelebte Innenstadtviertel oder citynahe, aufgewertete frühere Industrieoder Gewerbebrachen („Gentrification“). (Krämer-Badoni 1987; Dangschat 1988; Friedrichs 1998)

Familien mit mittleren Einkommen, denen innenstadtnaher Wohnraum zu teuer und die Problembelastung der Nachbarschaft in den Wohnsiedlungen am Stadtrand zu groß wird oder die Eigentum bilden wollen, ziehen in das städtische Umland. So kann es bei verschärfter Entwicklung der genannten Konzentration von Bevölkerungsgruppen („Segregation“) zur sozialen Spaltung der Stadtgesellschaft kommen (Häußermann/Siebel 1988). Aus der „residentiellen Segregation“ durch Abwanderung von Familien mit Kindern mittleren und höheren Einkommens aus der Stadt kann eine räumliche Konzentration von Reichtum und Armut entstehen, eine Polarisierung des Stadtraums in „Siegerräume“ und „Verliererräume“ (Becker 2010; Dangschat 1996).

Direkte Ausgrenzung und Marginalisierung einkommensschwacher Bewohner geschieht mit den Möglichkeiten des Polizeigesetzes (z.B. Bettelverbot) und der Vertreibung von Drogenszene, Straßenprostitution und Wohnungslosen aus den Innenstädten, durch verstärkte Polizeipräsenz, Kontrollen und der aus DDR-Zeiten bekannten Videoüberwachung öffentlicher Räume (Hecker 1997).

„Siegerräume“ sind demnach die aufgewerteten Innenstädte, Kulturpaläste, Shopping-Malls und die luxussanierten Altbauten der Gründerzeitviertel mit ihren attraktiven und teuren Appartements und Penthousewohnungen (KrämerBadoni 1987). „Verliererräume“ entstehen hingegen dort, wo Stadtgebiete von der Stadtentwicklungsplanung vernachlässigt werden, wo sich private Investoren mangels Kaufkraft, Nutzungsvielfalt und gutem Image zurückziehen und wo kommunale Belegungspolitik und Armutszuwanderung zu räumlicher Konzentration von Armut und sozialen Problemen führt (Gatzweiler/Strubelt 1988). Solche „Verliererräume“ sind typischerweise in ehemaligen Arbeiterwohngebieten der Jahrhundertwende mit schlechter Bausubstanz sowie in ungünstigen Lagen mit schlechter Verkehrsinfrastruktur und einseitiger Sozialstruktur zu finden (Dangschat 1996).

Die politische Zielproblematik sieht Dangschat für die Städte darin, trotz Attraktivitätssteigerung durch Gestaltung und Aufwertung der Innenstädte die Stadtrandgebiete nicht zu vernachlässigen, weil damit wiederum Folgekosten, Sicherheitsprobleme und Imageschäden produziert werden. Esser und Hirsch (1987) postulieren angesichts des verstärkten interkommunalen Wettbewerbs eine Zweibis Dreiteilung der Städte: in einigen wenigen Städten einen international wettbewerbsfähigen Teil der Stadt für Geschäftsleute, Kongressund Messebesucher; den „normalen“ Arbeits-, Versorgungsund Wohnstadtteil für die mittleren Lagen, der die Funktion eines regionalen Oberzentrums übernimmt; und die marginalisierte Stadtregion der sogenannten A-Gruppen (Arbeitslose, Arme, Ausländer, Alleinerziehende), die mancherorts zum Teil bereits abgeschottet von den anderen Teilen ist und überwacht wird.

„Die Tatsache, dass die sozialräumliche Gestalt der Städte immer das Ergebnis politisch-sozialer Kräfteverhältnisse, Konflikte und Kompromisse unter ökonomischstrukturellen, aber historisch und im Kontext gesellschaftlicher Kämpfe sich verändernden Bedingungen ist, gilt heute mehr denn je.“ (Esser/Hirsch 1987: 56)

Auf konstitutive Wirkungszusammenhänge der Ökonomie einer Stadt verweist Dieter Läpple (1998) mit seinem Konzept städtischer Teilökonomien. Er empfiehlt einen „Bottom-Up-Ansatz“ unter Einbezug spezifisch städtischer Entwicklungsbedingungen – wie historisch gewachsener Produktionsund Wertschöpfungsstrukturen – und räumlicher Verflechtungszusammenhänge. Städtische ökonomische Cluster können als Schnittmenge zwischen gesamtwirtschaftlich oder global orientierten Branchen und dem städtischen ökonomischen Milieu angesehen werden. Entgegen der Ausrichtung von Stadtpolitik auf internationalen Wettbewerb sieht Wendelin Strubelt in der Ausdifferenzierung ökonomischer Wachstumsmöglichkeiten durchaus Chancen für strukturell unterschiedliche Entwicklungspfade von Städten. Mit der Kommunikationstechnologie wird die Subzentrenbildung in Städten gefördert und die dezentrale Konzentration der Nutzungsfunktionen ermöglicht. Wohnen, Arbeiten und Erholen können räumlich zusammenrücken (Strubelt 1998).

 
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