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4 Die Rolle des Raums

Die Identität, die man gewinnt, indem man in einem bestimmten Raum lebt, ist in erster Linie praktisch bestimmt. Nur wenn der Ort des alltäglichen Lebens ein Überleben ermöglicht, wenn Wohnen und Arbeit sowie Beteiligungsmöglichkeiten vorhanden sind, ist die notwendige, allerdings nicht immer hinreichende Bedingung für die Bedeutung eines Raums für die Herausbildung des eigenen Ichs gegeben, das wiederum erst die Herausbildung einer Stadtteilgesellschaft ermöglicht (Läpple, 1991; Ipsen 2002). Das menschliche Dasein ist in Raumstrukturen eingebunden. Menschen sind im alltäglichen Handeln, mit Planen, mit der Ausübung von Kunst, in der Wissenschaft u.v.m. an der Konstruktion von Räumen beteiligt (Bourdieu 1985). Diese Raumkonstruktion in einem neuen Stadtteil ist besonders aufschlußreich für den Beobachter, da hier Räume neu geschaffen werden. Eine zentrale Frage ist, wo sich die Aneignung des Stadtteils unter welchen Bedingungen abspielt?

Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse: das Spacing und die Syntheseleistung (Löw 2001, 159).

Unter Spacing versteht Löw (2001, 158) das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen, das Errichten, das Bauen von Häusern, das Vermessen von Grenzen oder das Positionieren von Waren, ebenso die Positionierung der Menschen gegenüber anderen Menschen und die Vernetzung von Kommunikationsmöglichkeiten.

Räume sind institutionalisiert, wenn (An-)Ordnungen über individuelles Handeln hinaus wirksam bleiben und genormte Syntheseleistungen nach sich ziehen.

Die These ist, dass diese gegenwärtige Neukonfiguration von Räumen ein Schauplatz von Machtspielen oder besser: von Machtkämpfen ist, die sich auf den unterschiedlichsten Ebenen im Stadtteil abspielen. Über die Konstitutionen von Räumen und Orten eignen sich die Bewohner einen neuen Stadtteil an. Die Aneignung ihres Quartiers läuft über die Konstitution des Raums, was wiederum durch die Platzierung von sozialen Gütern und Menschen bzw. durch das Positionieren von symbolischen Markierungen geschieht. Räume werden aber erst einmal durch Orte erzeugt, die wiederum durch das Tun von Menschen entstehen. Vom gesellschaftlichen Raum zu unterscheiden sind konkrete Orte. Diese Orte bezeichnen immer eine abgrenzbare und damit eine erfahrbare Einheit des Raums. Ein Ort ohne Begrenzung ist nicht denkbar. Die Gestimmtheit des Orts korrespondiert mit der Eigenart des ihn umgebenden Raums und umgekehrt (Ipsen 2002).

Die Unterscheidung von Raum und Ort ist eine wesentliche Begriffsbestimmung. Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine konkrete Stelle, der benennbar ist, meist geografisch markiert. Orte entstehen im Spacing, sind einzigartig. Die Benennung forciert die symbolische Wirkung von Orten. Die Konstitution von Räumen bringt systematisch Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen. Der Ort ist somit Ziel und Resultat der Platzierung. An einem Ort können verschiedene Räume entstehen, die nebeneinander sowie in Konkurrenz zueinander existieren bzw. in klassenund geschlechtsspezifischen Kämpfen ausgehandelt werden. Dangschat (1996, 104) fordert eine Unterscheidung von Raum als theoretisches Konstrukt und Ort als empirische Konkretisierung von Raum. In einem ersten Schritt definiert er Ort als die Stelle, den Platz, das Wohnviertel, die Stadt, die Region, das Land. Als Merkmal des Orts bestimmt er außerdem, dass er immer nachzeichenbare Grenzen hat und dass seine Inhalte, sein Image sowie sein Gebrauchsund Tauschwert immer festgestellt werden können.

Dies führt zur Überlegung, welche Orte für wen zugänglich sind. Womit unterscheidet sich der eigene Ort von einem fremden Ort? „Die Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremdem Ort hat immer mit Macht zu tun. Solange die Zuordnung der Räume akzeptiert wird, bleibt die Macht latent. Sie kann jedoch gewaltförmig werden, wenn man den eigenen Ort durch andere Ansprüche auf den gleichen physischen Ort gefährdet sieht oder wenn eine „Fremde Person oder Gruppe einen von ihm bzw. ihr noch nicht besetzten Ort infiltriert“. Diese grundsätzlichen Beobachtungen können verstärkt in einem entstehenden Stadtteil nachgezeichnet werden. Da immer neue Orte entstehen, die es noch nicht gab, gibt es natürlich auch immer wieder neue Orte zu besetzen. Bei dieser Besetzung spielen natürlich die Mittel eine Rolle, die eine Aneignung erleichtert. Das sind Zeit, Kapitalien, Sprache oder Symbole“ (Ipsen, 2002, 237).

Um sich den Raum des Stadtteils Rieselfeld aneignen zu können, müssen eben erst Orte existieren. Denn damit Bewohner eines Stadtteils einen Bezug zu einem Raum bekommen, müssen Orte erfahren werden. Die alltägliche Konstitution von Raum ist dagegen an Wahrnehmungsprozesse gebunden. Aus dem praktischen Bewusstsein heraus werden wahrnehmend soziale Güter und Menschen miteinander verknüpft. Diese Synthesen sind nicht nur vom Habitus und gesellschaftlichen Strukturen bestimmt, sondern auch durch die Außenwirkung der sozialen Güter und Menschen beeinflusst.

Die Betonung der Wahrnehmung für die Konstituierung von Räumen ist deshalb so bedeutend, weil nur so zum Ausdruck kommt, dass Menschen die sozialen Güter, die sie verknüpfen oder platzieren, nicht nur sehen, sondern auch riechen, hören oder fühlen. Geräusche sind an der Herausbildung von Räumen,

z.B. durch das Erklingen von Kirchenglocken, das Ausrufen von Waren oder das Tönen von Maschinenmotoren beteiligt.

In der Wahrnehmung verdichten sich – wie ausgeführt – die Eindrücke zu einem Prozess, einem Spüren der Umgebung, in der man sich befindet, bei dem die sozialen Güter eben nicht nur platziertes Objekt sind, sondern durch ihre Auswirkung das Spüren der Betroffenen beeinflussen.

Bourdieu (1985) denkt die Welt als einen mehrdimensionalen Raum, in dem bestimmte Unterscheidungsund Verteilungsprinzipien in Form von Eigenschaften oder Merkmalen wirksam werden, die ihren Trägern Stärke und Macht verleihen. Der soziale Raum wird als ein Kräftefeld beschrieben, „das heißt als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegten und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückführbar sind“ (ebd., 10).

Als Konstruktionsprinzip dieses Felds wirken Eigenschaften, die verschiedene Sorten von Macht und Kapital bilden. Kapital wird in unterschiedlicher Form gedacht. Es tritt in seiner objektivierten Form als materielles Eigentum und in seiner inkorporierten Form als kulturelles, soziales oder symbolisches Kapital auf. Ausgehend von diesen Kapitalien entsteht ein sozialer Raum. Aufgrund der jeweiligen Stellung des Akteurs bilden sich „Spiel-Räume“, die ihrerseits wiederum eigene Prinzipien und Hierarchien entwickeln. In dem sich solchermaßen konstituierenden mehrdimensionalen Raum verteilen sich die Akteure auf der ersten Ebene je nach Gesamtumfang an Kapital, über das sie verfügen. In der zweiten Dimension breiten sie sich dagegen je nach der Zusammensetzung dieses Kapitals aus, d.h., dass hier die jeweilige Bedeutung der einzelnen Kapitalsorten in Bezug auf das Gesamtvolumen wirksam wird (ebd., 11).

In diesem räumlich gedachten Modell drückt die Stellung eines Akteurs, entsprechend der Verteilung der verschiedenen Kapitalsorten, den jeweiligen Stand der Kräfteverhältnisse aus, die sich zum Beispiel als Statusmuster, Renommee oder Prestige widerspiegeln. Die konkret eingenommene, nach Bourdieu statistisch messbare Stellung eines Akteurs gibt zugleich Informationen über dessen persönliche Motivation, seine emotionale Lage sowie seine sozialen Beziehungen und Positionen.

Den allgemeinen Raumstrukturen entsprechend wird auch „die Existenz eines objektiven, Nähe und Ferne, Vereinbares und Unvereinbares festlegenden Raumes geltend“ gemacht. Entfernungen, Abstände, Niveauunterschiede lassen sich nicht beliebig verändern oder überwinden. „Was existiert, das ist ein Raum von Beziehungen, ebenso wirklich wie der geographische, worin Stellenwechsel und Ortsveränderungen nur um den Preis von Arbeit, Anstrengungen und vor allem Zeit zu haben sind.“ (Ebd., 12)

Diese Kapitalien haben natürlich nur eine begrenzte Anzahl von Stadtteilbewohnern. Die Bewohner müssen ihre eigene Stellung im System Stadtteil, und somit ihre gesellschaftliche Identität, immer wieder durch Repräsentationsarbeiten durchsetzen.

Bourdieu beschreibt die soziale Welt in seiner Sozialtypologie als Form eines „mehrdimensionalen Raumes”. Die Ordnung alltäglicher Lebenserfahrungen erfolgt nach Position und Aktionsraum des Individuums in typischen Lebenskonstellationen. Erfasst werden soziale Positionen und Lebensstile.

Das Zusammenspiel funktioniert auf dem Fundament des Distinktionstheorems. „Zeichen setzen, Symbole schaffen und so Differenzen schaffen zu anderen Zeichen und Symbolen. Der soziale Raum und die in ihm sich spontan abzeichnenden Differenzen funktionieren auf der symbolischen Ebene als Raum von Lebensstilen oder Ensemble von Ständen, durch unterschiedliche Lebensstile ausgezeichnete Gruppen.“ (Ebd., 13)

Die Frage ist nun nicht mehr nur: „Wer bin ich wirklich?“, sondern auch:

„Wo bin ich in der Wirklichkeit und von wem werde ich wahrgenommen?“

 
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