Desktop-Version

Start arrow Politikwissenschaft arrow Strategien der extremen Rechten

  • Increase font
  • Decrease font


<<   INHALT   >>

Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus

Micha Brumlik

1 Dass Auschwitz sich nie wiederhole …

Es war Theodor W. Adorno, der jenen Intentionen, die einer Erziehung und Bildung im Hinblick auf den Nationalsozialismus dienlich sind, bis heute ihre bisher unübertroffene Artikulation gegeben hat. Ziel aller Pädagogik, so Adorno, müsse es sein, dass Auschwitz sich nicht wiederhole und: schon alleine die Forderung nach einer Begründung dieses Postulats prolongiere das Unheil, dem es zu entgegnen gälte (Meseth 2000: 30 f.). Dabei war dieses Postulat, aus Erfahrung begründet, bereits oberste Räson des bundesrepublikanischen Verfassungsstaates. Es geht um die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, genauer gesagt dessen Artikel 1, der die "Würde des Menschen" als Kriterium aller Gesetzgebung und aller staatlichen Machtausübung festlegt. Dieses Prinzip hat bedeutende historische Wurzeln. Es war die kosmopolitische Philosophie der deutschen Aufklärung, zumal Immanuel Kants, die die nach dem Nationalsozialismus geschaffene deutsche Verfassung, das Grundgesetz, wesentlich geprägt hat. Als oberste Direktive der Tugendlehre weist Kant in der Metaphysik der Sitten Folgendes aus: "Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, dass er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist, sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist des Menschen Pflicht" (Kant 1968: 526).

Einen Menschen als Zweck seiner selbst zu betrachten, bedeutet, ihn in mindestens drei wesentlichen Dimensionen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, zu tolerieren, sondern auch anzuerkennen, d. h. nicht nur hinzunehmen, sondern zu bejahen in der Dimension körperlicher Integrität, personaler Identität und soziokultureller Zugehörigkeit. Mit dieser Anerkennung geht ein Demütigungsverbot einher, das sich auf die "Würde" eines Menschen bezieht. Diese "Würde" eines Menschen ist der äußere Ausdruck seiner Selbstachtung, also jener Haltung, "die Menschen ihrem eigenen Menschsein gegenüber einnehmen, und die Würde ist die Summe aller Verhaltensweisen, die bezeugen, dass ein Mensch sich selbst tatsächlich achtet" (Margalith 1997: 72). Diese Selbstachtung wird verletzt, wenn Menschen die Kontrolle über ihren Körper genommen wird, sie als die Person, die sie sprechend und handelnd sind, nicht beachtet oder ernst genommen bzw. wenn die Gruppen oder sozialen Kontexte, denen sie entstammen, herabgesetzt oder verächtlich gemacht werden. Die Verletzung dieser Grenzen drückt sich bei den Opfern von Demütigungshandlungen als Scham aus (dazu ausführlich: vgl. Brumlik 2002: 65 f.). Es gibt eine absolute Scham, in der deutlich wird, dass nicht nur die Würde des Menschen, sondern zugleich seine Menschheit verletzt worden ist. In des italienisch-jüdischen Chemikers Primo Levi kristallklarem und nüchternem Bericht über seine Lagerhaft in Auschwitz wird den Erfahrungen absoluter Entwürdigung Rechung getragen; der Ausdruck von der "Würde des Menschen" bzw. der "Würde des Menschen" gewinnt vor der Kulisse von Auschwitz eine gebieterische und einleuchtende Kraft:

"Mensch ist", so notiert Levi für den 26. Januar 1944, einen Tag vor der Befreiung des Lagers "wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als … der grausamste Sadist." Unter diesen Bedingungen schwindet dann auch die natürliche Neigung zur Nächstenliebe. Levi fährt fort: "Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist" (Levi 1086: 164).

Mit dem Begriff der "Würde des Menschen" wird lediglich ein Minimum angesprochen, der kleinste gemeinsame Nenner nicht von Gesellschaften, sondern von jenen politischen Gemeinwesen, von Staaten, die wir als "zivilisiert" – nicht unbedingt als "gerecht" – bezeichnen. Bei alledem ist die Einsicht in die Würde des Menschen jedoch nicht auf intellektuelle Operationen beschränkt, sie ist mehr oder gar anderes: Das Verständnis für die Würde des Menschen wurzelt in einem moralischen Gefühl (vgl. ebd.: 65 f.). Dieses Gefühl ist moralisch, weil es Beurteilungsmaßstäbe für Handlungen und Unterlassungen bereitstellt, es ist indes ein Gefühl, weil es sich bei ihm nicht um einen kalkulatorischen Maßstab, sondern um eine umfassende, spontan wirkende, welterschließende Einstellung handelt. Wer erst lange darüber nachdenken muss, ob einem oder mehreren Menschen die proklamierte Würde auch tatsächlich zukommt, hat noch nicht verstanden, was "Menschenwürde" ist. Es handelt sich beim Verständnis der Menschenwürde also um ein moralisches Gefühl mit universalistischem Anspruch, das unter höchst voraussetzungsreichen Bedingungen steht.

1) Die Anerkennung der Integrität anderer ist an die Erfahrung eigener Integrität und Anerkennung, die sich in Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung artikuliert, gebunden.

2) Niemand kann Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung entfalten, der nicht seinerseits in allen wesentlichen Bezügen toleriert, akzeptiert und respektiert worden ist.

3) Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung sind die logischen und entwicklungsbezogenen Voraussetzungen dafür, Einfühlung bzw. Empathie in andere entfalten zu können (vgl. Honneth 1992; vgl. ebenfalls Brumlik 2002).

Es sind diese Erfahrungen, die in der politischen Bildung in Deutschland die industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden bisher als gleichsam negative Folie, als unüberbietbares Extrembeispiel für die Verletzung der Würde des Menschen dienten, als ein Extrembeispiel, an dem drastisch sichtbar und fühlbar wird, wohin blindes Ressentiment, Rassismus, politischer Partikularismus und eine entfesselte, von aller ethischen Bindung gelöste Sozialtechnik führen kann.

 
<<   INHALT   >>

Related topics