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4 Gefährdungssituation

Der szeneinterne Druck auf "Abweichler" nimmt nur in seltenen Fällen Formen physischer Gewalt an. Diese Übergriffe werden aber ausgeschmückt und als Szene-Legenden in der Szene verbreitet, wodurch nicht nur die Erfordernis, sondern auch das Bedürfnis besteht, zu Beginn der Maßnahmen Sicherheitsaspekten eine zentrale Stelle einzuräumen. Diese reichen von einer realistischen Gefährdungsanalyse, über Trainings bis hin zu polizeilichen Maßnahmen. Dabei kommen auch unkonventionelle Ansätze infrage:

Die Sicherheitsmaßnahmen schließen auch Gespräche im Sinne eines Ausgleichs zwischen "politischen Gegnern" ein, die in der Vergangenheit oftmals wechselseitig Täter oder Opfer waren. So konnte ein Gewalttäter der rechten Szene dazu gewonnen werden, sich mit Vertretern der linken Szene an einen Tisch zu setzen, um einen "Waffenstillstand" (kein "Friedensvertrag", wie beide Parteien betonten) zu schließen. Dieser Waffenstillstand trug über die Zeit des Ausstiegs und wurde, trotz weiterhin unterschiedlicher Einstellungen, eingehalten.

Eine spezielle Lage haben Aussteiger in Haft, bei denen besondere Diskretion angezeigt ist. In einem extremen Fall betreute die BIG Rex zwei Aussteiger, die in einer Zelle lebten: Die parallele Betreuung wurde durch die beiden Zellengenossen selbst nicht entdeckt.

5 Anamnese

Der Einstieg in rechtsextreme Szenen kann als Prozess des Hereinwachsens verstanden werden; der Ausstieg ist ebenfalls ein Prozess. Die jeweilige Szene bietet Sinnund Handlungsrahmen für junge Menschen an, die darin eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse sehen. In der Anamnese müssen diese Motive erkannt und aufgegriffen werden, um sozialverträgliche Entsprechungen für Szeneangebote zu entwickeln. Die Funktion der Musik als "Einstiegsdroge" ist ein seltener Fall, bei Einzelnen aber bedeutend [1].

So kam ein späterer Aussteiger nur deshalb in Kontakt mit einer rechten Kameradschaft, da er dort aktuelle, strafrechtlich relevante Musik kaufen konnte, die ansonsten nur schwer zu beschaffen war. Er konnte im Rahmen des Ausstiegs zu einer Art "Musiksubstitution" überzeugt werden und orientierte sich in Richtung Fun-Punk neu.

Um die zentralen Themen der Ausstiegswilligen angehen zu können, ist ein tragfähiges Vertrauensverhältnis Voraussetzung, das über kleine wechselseitige Schritte (im Sinne eines tit-for-tat-Spiels) aufgebaut wird. Dabei geht die BIG Rex häufig zunächst in Vorleistung. Ohne ein belastbares Verhältnis können weitere Schritte der Distanzierung nicht stattfinden.

Häufig startet die Betreuung mit der Stabilisierung des sozialen Lebens des Ausstiegswilligen. Hier bewährte es sich, in Netzwerken zusammen zu arbeiten, in denen jeder Partner das einbringt, was er am besten kann. Die Ausstiegshelfer initiieren Netzwerkkontakte mit dem Ziel, ein gutes Angebot zusammenzustellen, ein enges Wahrnehmungsraster bezüglich spezifischer Auffälligkeiten des Ausstiegswilligen zu haben, aber auch um sich – nach der inhaltlichen Distanzierung des Aussteigers – von dem Fall zurückziehen zu können und ihn doch in guten Händen zu wissen. Je nach individueller Problemdichte und Möglichkeiten des Aussteigers kann eine Betreuung zwischen einem halben und mehreren Jahren dauern und dabei intensive Phasen sprunghafter Entwicklung, aber auch stetige Etappen und Rückschritte umfassen. Die Ausstiegshelfer haben dabei die Aufgabe, dann präsent zu sein, wenn sie gebraucht werden und gleichzeitig Eigenständigkeit zu fördern.

  • [1] Die Möglichkeit, musikalische Präferenzen auch in der Betreuung von Aussteigern aufzugreifen wird auch in Elverich/Glaser/Schlimbach (2009): 131 ff. beschrieben.
 
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