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1.2 Public-Health-Relevanz – grundlegende theoretische und anwendungsbezogene Verankerung des Forschungsthemas

Definitionsversuche von Public Health verweisen oftmals auf die Ausführungen von Winslow (1920), dem ersten Vorsitzenden der Abteilung Public Health an der Yale University School of Medicine:

„Public Health is the science and art of preventing disease, prolonging life, and promoting physical health and efficiency through organized community efforts of society.“ (ebd., S. 30)

Das Forschungsgebiet zielt demzufolge auf eine systematische Analyse der Verbreitung von Gesundheitsund Krankheitseinflüssen in der Bevölkerung und fokussiert darüber hinaus gesellschaftlich organisierte Maßnahmen zur Krankheitsverhütung sowie zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage. Public Health betrachtet daher primär die lebensweltlichen Bedingungen der Gesundheit von sozialen Gruppen und nimmt damit eine bevölkerungsbezogene Perspektive ein. Keineswegs widerspricht diese Forschungsdisziplin damit einer individuenspezifischen Analyse von Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken. Vielmehr ist Public Health überwiegend mit dem „angemessenen Management kollektiver Gesundheitsprobleme befasst, ohne individuelle Präferenzen und Bedürfnisse zu negieren“ (Schwartz, 2012, S. 4). Bezogen auf eine betriebliche Gesundheitsanalyse unter Berücksichtigung der Dimension Geschlecht ermöglicht das Forschungsgebiet, unterschiedliche Lebensund Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern systematisch zu erfassen und auf dieser Grundlage differenzierte Strategien für die BGF abzuleiten.

Public Health zielt jedoch nicht nur auf Analysen der Bedingungen für Gesundheit und Krankheit innerhalb der Bevölkerung, sondern bemüht sich auch darum, bedarfsgerechte Strukturen der Versorgung abzuleiten sowie Modelle der Funktionsund Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu entwickeln. Ein zentrales Prinzip der Public-Health-Forschung ergibt sich daher aus dem anwendungsorientierten Fokus (Kolip, 2002). Der wissenschaftliche Ansatz verbleibt nicht primär bei den Zielen der Grundlagenforschung, sondern ist um einen konkreten Beitrag zur Lösung gesundheitlicher Probleme in der Bevölkerung bemüht. Dabei orientiert sich Public Health an einem interdisziplinären Forschungsansatz, der die Erkenntnisse und Methoden unterschiedlicher Einzeldisziplinen, etwa der Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Pädagogik, der Ökonomie, der Medizin oder der Epidemiologie, berücksichtigt (Hurrelmann et al., 2012). [1] Allerdings zielt der interdisziplinäre Fokus nicht darauf ab, verschiedene Teilaspekte nebeneinander zu stellen. Vielmehr sind die für die gesundheitswissenschaftliche Forschungsfrage relevanten Ansätze zusammenzuführen, um eine disziplinübergreifende Arbeitsweise zu ermöglichen. Daraus resultiert schließlich der konkrete Anwendungsbezug für die vorliegende Studie: Durch die Ableitung von bedarfsgerechten Versorgungsstrukturen – und der damit eingenommenen Makro-Perspektive – können ebenso politische Implikationen für eine geschlechtssensible BGF erarbeitet werden. Der interdisziplinäre Bezug auf die Geschlechterforschung ist damit eine entscheidende Grundlage für die Gestaltung sozialer und politischer Rahmenbedingungen im betrieblichen Setting. Für den Forschungsgegenstand arbeitsbedingter Stress in CCn und Geschlecht bedeutet dies, die für das Themenfeld relevanten Theorien und Methoden herauszuarbeiten und miteinander zu verknüpfen. [2]

Überdies gründen die Handlungsansätze von Public Health – entgegen einem pathogenen Verständniss von krankheitsbezogenen Modellen der Biomedizin – auf einer salutogenen [3] Sichtweise. Unter Salutogenese wird hierbei „die Gesamtheit biologischer, psychischer und sozialer Ressourcen“ zur Bewältigung belastender Lebensumstände verstanden (Siegrist, 2012, S. 145). Auf Grundlage dieses Ansatzes bildet der vielfach zitierte Kerngedanke der Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 den strategischen Handlungsrahmen der vorliegenden Studie:

„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozeß, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.“ (WHO, 1986, S. 1)

Die internationale Konferenz der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) beabsichtigte seinerzeit, „zu aktivem Handeln für das Ziel ‚Gesundheit für alle' bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus“ (ebd.) aufzurufen. Gegenwärtig werden die Ergebnisse der Charta oftmals mit einem Wandel des Verständnisses von Gesundheit und Krankheit verbunden. Dieser kennzeichnet einen „Paradigmenwechsel von der individuumszentrierten Krankheitsheilung zur ressourcenorientierten Gesundheitsförderung“ (Schmidt & Kolip, 2007, S. 9). Die Ottawa Charta – als Umsetzung dieses Verständnisses in eine politische Forderung – gilt damit sowohl als handlungsleitendes Fundament der Gesundheitswissenschaften im Allgemeinen als auch als strategischer Ausgangspunkt des Forschungsthemas im Besonderen. Hier bezieht sich die WHO in ihren politischen Forderungen nach Gesundheit direkt auf die Relevanz einer gesundheitsfördernden Gestaltung von Arbeitsbedingungen. So heißt es in der Charta, dass „die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, […] eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit“ (WHO, 1986, S. 3) sein sollte. Public Health befasst sich daher ebenso mit der Frage nach den Möglichkeiten eines guten Lebens unter den Bedingungen der Marktökonomie (Müller & Koppelin, 2010). Im Mittelpunkt steht folglich die Frage, wie Erwerbsarbeit und die sozialpolitischen Rahmenbedingungen gestaltet sein müssen, damit ein gesundes, sicheres und sozial angemessenes Leben und Arbeiten möglich ist.

Unklar bleibt jedoch der konkrete Zusammenhang von Public Health und dem Themenbereich Arbeit, Gesundheit und Geschlecht. Ein Blick auf die gegenwärtigen politischen Debatten zeigt, dass Begriffe wie Gender-Mainstreaming, Geschlechtersensibilität und -gerechtigkeit längst Eingang in das Vokabular der politischen Auseinandersetzung gefunden haben (z. B. Landtag NRW, 2004; BMFSFJ, 2011; Deutscher Bundestag, 2013). Ebenso sind in dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode richtungsweisende Formulierungen eingegangen. So stellt die Bundesregierung in Aussicht, „die jeweiligen Besonderheiten [zu] berücksichtigen, die sich aus der Frauenund Männergesundheitsforschung insbesondere für die gesundheitliche Versorgung und die Erarbeitung von medizinischen Behandlungsleitlinien ergeben“ (Bundesregierung, 2013, S. 82). Gleichwohl wird diesbezüglich bisher eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich: Zielgruppenspezifische Erfordernisse von Frauen und Männern finden kaum Berücksichtigung in den konzeptionellen Überlegungen zum Arbeitsund Gesundheitsschutz sowie im Rahmen von Maßnahmen der BGF. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird der blinde Fleck im Bereich Arbeit, Gesundheit und Geschlecht auf eine Unterschätzung des Faktors Geschlecht zurückgeführt. Obschon die derzeitigen politischen Debatten einen Bedeutungswandel andeuten, werden Altgeld (2010) zufolge Geschlechterfragen in Gutachten der gesundheitswissenschaftlichen Politikberatung nur am Rande thematisiert. Systematische Analysen und Erklärungen der gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern bleiben weitestgehend aus. Eine wirkungsvolle Gestaltung und Umsetzung von Maßnahmen der BGF und Prävention erfordert daher – ganz im Sinne von Public Health – eine zielgruppenspezifische Identifikation vorhandener Belastungsund Bewältigungsmuster von Frauen und Männern im betrieblichen Setting. Auf dieser Basis wird nachfolgend die der Studie zugrundeliegende Forschungsfrage erläutert.

  • [1] Diesbezüglich wird eine Neuorientierung der Gesundheitsforschung konstatiert, die sich in einem Wandel von traditionellen Aufgabenfeldern einer Old Public Health (Epidemiologie, Hygiene, Mikro-Biologie) hin zu Konzepten der New-Public-Health-Forschung kennzeichnet, die ebenso organisatorische Elemente der Systemund Versorgungsforschung einbezieht (Hurrelmann et al., 2012).
  • [2] Der Aspekt der Interdisziplinarität wird erneut aufgegriffen, sobald die relevanten methodischen und theoretischen Ansätze herausgearbeitet wurden.
  • [3] Salus, lat.: Unverletztheit, Heil, Glück; Genese, griech.: Entstehung (Bengel et al., 2001).
 
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