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4 Auswertung

Die Auswertung ist in sechs Thesen unterteilt:

4.1 Der rechtsextreme Terrorismus zeigt zentrale Defizite der staatlichen Sicherheitsarchitektur auf.

Rechtsterrorismus hat in Deutschland eine Tradition und wurde dennoch jahrelang von staatlichen Stellen für unmöglich gehalten. Diese fatale Fehlund Selbstüberschätzung platzte mit dem Auftauchen des sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU), der ein Jahrzehnt lang morden und rauben konnte, ohne aufgespürt oder von staatlichen Stellen auch nur erkannt zu werden.

Eine Bewertung der Geschichte des NSU in Bezug auf mögliche Geländegewinne muss differenziert erfolgen und das Verhalten staatlicher Stellen und deren Folgen für die Opferperspektive als Zusammenhang erkennen. Tatsächlich handelt es sich um einen Skandal und die Geschichte des NSU zeigt ein kaum für möglich gehaltenes Staatsversagen auf. Unter Beobachtung des thüringischen und landesweiten Verfassungsschutzes konnte eine bekannte gewaltbereite Gruppe "untertauchen", sich ein scheinbar kleinbürgerliches Leben aufbauen, zehnfach morden und systematisch raubend durchs Land ziehen. Ein rechtsextremer Hintergrund der Mordserie wurde schnell von staatlichen Stellen für unmöglich erklärt, eine Interpretation, die viele Medien, Wissenschaftler und die Zivilgesellschaft unkritisch übernahmen (vgl. Gensing 2012). Stattdessen wurden die Opfer zu Tatverdächtigen erklärt, von polizeilichen Stellen z. T. nachdrücklich in ausufernden Befragungen genötigt und schon an den Tatorten inhuman bedrängt. In Bezug auf die Kriterien der Opferperspektive wurde dabei mindestens die zweihöchste Stufe, die Leugnung der Opferperspektive erreicht. Einzelne Opferfamilien, denen man z. B. Lügengeschichten über ihre Toten erzählte, sprachen auch von der höchsten Stufe, der Leugnung und offenen Bekämpfung der Opferperspektive.

Dieser Zustand ist eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig und stellt die Sicherheitsarchitektur der Republik noch immer in Frage. Im Aufarbeitungsprozess kam der doppelte Eindruck hinzu, dass vor allem die Verfassungsschutzämter weder an einer ehrlichen Aufarbeitung noch an einer Korrektur ihres Verhaltens, die in die Zukunft gerichtet ist, interessiert sein könnten. Dem stehen immerhin positive Eindrücke vieler Opferfamilien entgegen – anlässlich einer zentralen Trauerfeier, die in Berlin im Beisein der Staatsspitzen stattfand, der Arbeit eines Bundestagsuntersuchungsausschusses sowie einzelner kommunaler Bemühungen an den NSU-Tatorten. Bei genauer Hinsicht ist dieser dramatische Befund jedoch kein Erfolg der NSU, sondern ausschließlich Ausdruck des staatlichen und zivilgesellschaftlichen Versagens. Nicht die Taten der NSU haben den Staat im engeren Sinne gefährdet, sondern Staat und Gesellschaft sind selbst ihrer eigenen Normen und Regeln nicht gerecht geworden und haben dabei aus zum Teil eindeutig rassistischen Motiven aus Opfern Täter konstruiert. Der damit verbundene Schaden für die demokratische Kultur ist somit kein Erfolg des Rechtsextremismus, sondern eine Selbstverleugnung der Demokraten.

Die Idee des Rechtsterrorismus ist mit dem Aufdecken der NSU nicht verschwunden. Die Reaktionen innerhalb der rechtsextremen Szenen waren vielschichtig und schwankten zwischen offener Unterstützung/Bewunderung, stiller Sympathie, bis zur Ablehnung aus eher strategischen Gründen. Eine Wiederholung bzw. Neubelebung des rechtsterroristischen Modells scheint jederzeit möglich. Umso nötiger wären eine ehrliche Überprüfung der Beobachtungsmechanismen der rechtsextremen Szenen sowie eine Diskussion darüber, wie zukünftige Radikalisierungskarrieren frühzeitig erkannt und unterbrochen werden können. International findet dazu eine Diskussion unter dem Stichwort der Deradikalisierung statt, die in Deutschland bisher nur sehr verhalten aufgenommen wurde (vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 29–31/2013).

 
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