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2. Von Selbstvergewisserungsdiskursen zu posthumen Persilscheinen

Bis zum Jahr 2011 war das Bild, das sich die Bundesrepublik von Theodor Eschenburg gemacht hatte, wie mit einem Weichzeichner gemalt. Zahlreiche Schüler, Kollegen, Weggefährten und Journalisten hatten sich über mehr als 60 Jahre an der Erschaffung einer überaus stimmigen, kohärenten Erzählung beteiligt, in deren Zuge Theodor Eschenburg zum genuinen Demokraten und Liberalen über drei politische Systeme hinweg stilisiert wurde. In Kurzform lautet das gängige Narrativ wie folgt: Aufgewachsen in dem „weltoffenen“ Milieu Lübecks, habe Theodor Eschenburg als Student der Fächer Staatsrecht und Geschichte in Tübingen „eine Lebensform“ kennengelernt, „die man als süddeutsch, schwäbisch-altwürttembergisch, egalitär, liberal, parteidistanziert charakterisieren könnte“. Statt einem studentischen Corps beizutreten, habe Eschenburg eine „liberalere[n] Burschenschaft“, die schlagende und farbentragende Germania gewählt. „Parteipolitische Unterschiede“ hätten in diesem Milieu „keine Rolle“ gespielt. Dieser „süddeutsche Liberalismus, wie er ihn in Tübingen vorfand“, habe Eschenburg „zeitlebens“ geprägt.

Nach seiner Zeit in Tübingen, in der er auch den damaligen Reichsaußenminister und Nationalliberalen Gustav Stresemann kennengelernt habe, sei Eschenburg nach Berlin gewechselt, wo er bei der Arbeit an seiner Dissertation immer enger an Stresemann herangerückt, 1928 sogar in dessen Partei, die nationalliberale Deutsche Volkspartei, eingetreten sei. Bis zum Tod Stresemanns im Jahr 1929, ja noch weit darüber hinaus, habe sich Eschenburg seiner selbst gewählten „Leitfigur“, ihren politischen Prinzipien und Idealen verbunden gefühlt: Deswegen sei er auch aus der Deutschen Volkspartei ausgetreten, als sich diese nach dem Tod des Ministers immer mehr „nach rechts“ radikalisierte und habe 1930 als wahre liberale Nachfolgerin die Staatspartei mitgegründet. Umgang habe Eschenburg in dieser Zeit, weiß etwa der Verleger Gerd Bucerius zu berichten, vor allem mit Wirtschaftsund Nationalliberalen gehabt, insbesondere dem Finanzminister von Preußen und späteren ersten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hermann Höpker-Aschoff, sowie dem Reichsjustizminister und liberalen Politiker Erich Koch-Weser. Ergänzt wird dieser Personenkreis häufig durch die Mitglieder des Deutschen Bundes für freie Wirtschaftspolitik e.V., in dem sich neben Theodor Eschenburg zahlreiche „liberal eingestellte Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer“, etwa der Ingenieur und Unternehmer Robert Bosch, oder die bekannten Ökonomen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow zusammengefunden hätten, um eine „neue, liberale (Wirtschafts-) Politik zu entwickeln und zu präzisieren“. Den Nationalsozialismus „überlebte“ Theodor Eschenburg „im Verbandswesen“, schreibt der Historiker und Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling in seiner Kurz-Biografie über Theodor Eschenburg. Er sei „kein Held“ gewesen, sondern habe „Anpassungsleistungen“ vollziehen müssen, die „man als Verrat an Freunden und Bekannten verstehen konnte“, heißt es ohne weitere Erklärung. Er habe sich, „um vor Gefährdungen auch beruflich gesichert zu sein“, kurzzeitig der SS angeschlossen, sei aber „ohne Komplikationen“ wieder ausgetreten, als „seine Geschäftsreisen und die Anforderungen der SS sich nicht mehr zeitlich miteinander vertrugen“. Theodor Eschenburg ist dem Politikwissenschaftler und Historiker Jens Hacke zufolge dennoch „nie Anhänger des NS-Regimes gewesen“; in „vergleichsweise politikferner Rolle“ habe er die NS-Zeit überbrückt. Mit dieser Meinung steht Hacke nicht allein: Auch den Journalisten Friedrich Karl Fromme und Theo Sommer zufolge „überdauerte“ Eschenburg als „Mitglied der Geschäftsführung von Verbänden der Druckknopfund Reißverschlussindustrie“ die NS-Zeit bzw. „schlug er sich“ als „Industriesyndikus“ „durch die Jahre der Diktatur“. In der „inneren Emigration“ gar hat Eschenburg die zwölf Jahre des nationalsozialistischen Regimes nach Meinung des Historikers Wolfgang Benz verbracht.

Dieses Narrativ trägt jedoch hagiographische Züge. Brüche, Unstimmigkeiten, Ecken und Kanten, an denen Eschenburg doch angeblich so reich war, sucht man darin vergebens. Woher die Bewunderer Eschenburgs all dies und zweifelsfrei wussten, blieb in den meisten Fällen offen; tatsächlich kommen viele der Beiträge ohne Fußnoten aus. Wissenschaftlich vollkommen unreflektiert blieben zudem die Schlüsselbegriffe Demokratie und Liberalismus sowie der gesamte zeitgeschichtliche Kontext, in dem sich Eschenburg bewegte. Es gab keine Auseinandersetzung mit archivalischen Quellen, selbst zugängliches publiziertes Material wurde zwar gelegentlich erwähnt, aber kaum quellenkritisch analysiert. Die entscheidenden Fragen nach dem Demokratiebegriff Eschenburgs und der Prägekraft seines Umfelds wurden nicht gestellt. Was bedeutet es, Eschenburg als liberalen Demokraten der Weimarer Republik zu bezeichnen? Nach welchen Maßstäben soll man sein Umfeld bemessen, über das bislang jenseits von Selbstbeschreibungen wenig gesicherte Informationen vorliegen?

Als Praktik der Selbstvergewisserung war das Narrativ des großen liberalen Demokraten also nicht wissenschaftlich erzeugt, lehnte sich aber an die großen wissenschaftlichen Erzählungen insbesondere der Bundesrepublikgeschichte – Modernisierung und geglückter Wiederaufbau – an.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Biografie Theodor Eschenburgs setzte erst 2011 ein. Insbesondere die Politikwissenschaftlerin Hannah Bethke und der Politikwissenschaftler Rainer Eisfeld haben mit ihren Beiträgen auf eine andere Seite Theodor Eschenburgs aufmerksam gemacht, die das grotesk einseitige, harmonisierte Bild des großen Liberalen, das so wenig typisch für Biografien im 20. Jahrhundert ist, um neue wichtige Aspekte bereichert haben. Erstmals überhaupt wurde nun Eschenburgs Biografie auf breiterer Quellengrundlage jenseits seiner bekannten Memoiren erörtert. Als Leiter zweier Vorprüfstellen im Reichswirtschaftsministerium war Eschenburg, so die neuesten Erkenntnisse Eisfelds, mehrfach an „Arisierungen“ jüdischer Betriebe beteiligt.

Insgesamt trafen diese neuen Forschungsergebnisse jedoch auf erhebliche Kritik. Während die bisher gültige Erzählung, die selbst als das eigentlich unwissenschaftlich generierte Narrativ bezeichnet werden muss, sich kaum jemals dem Verdacht ausgesetzt sah, zu wenig geleistet oder Undifferenziertes produziert zu haben, meldeten sich mit dem Historiker Eckart Conze und dem Leiter des Instituts für Politikwissenschaft in Tübingen Oliver Schlumberger plötzlich Wissenschaftler zu Wort, die den „ganzen Eschenburg“ forderten, Reduzierungen auf die zwölf Jahre des NS ablehnten und vor vorschnellen Urteilen warnten.

Ein ganz eigenes Kapitel der anhebenden Debatte stellen die Entlastungsversuche dar, mit denen Eschenburg offensichtlich posthume Persilscheine ausgestellt werden sollen. Insbesondere das Vorgehen Hans-Joachim Langs ähnelte den Verteidigungsstrategien der 1950er Jahre: Zur Entlastung Eschenburgs, den Lang irrtümlicherweise als Nationalsozialisten angegriffen sah, hob er dessen Freundschaften mit Juden hervor. Zum einen ist es jedoch problematisch, die Freundschaft Eschenburgs zu Juden als quasi-ontologischen Philosemitismus zu generalisieren. Andere historische Beispiele zeigen, dass selbst nationalsozialistische Schwergewichte wie Reichsmarschall Hermann Göring in manchen Juden Menschen sahen, denen geholfen werden musste, ganz unabhängig von der Tatsache, dass man den Holocaust unbeirrt weiter ins Werk setzte. Die Argumentation Langs lehnt sich zum anderen an das bislang gängige Narrativ an und begeht damit auch dieselben methodischen „Stockfehler“, die schon die Ersterzählung kennzeichneten: So zieht Lang beinahe ausschließlich Berichte von Zeitzeugen heran, die nach 1945 entstanden sind. Dass solche Berichte problematisch sind, weil die Erinnerung trügt, die eigene Vergangenheit rationalisiert oder bewusst konstruiert wird, weiß die Geschichtswissenschaft seit langem. Zudem verzichtet Lang auf einen Fußnotenapparat, wodurch seine Einlassungen nicht überprüfbar sind. Hier rächt sich, dass der größte Teil seiner Stellungnahmen in Tagesund Wochenzeitungen und nicht in wissenschaftlichen Fachorganen verfasst wurde.

Die ausgewogeneren Stellungnahmen in der Debatte, insbesondere aus den Reihen der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, dem Institut für Zeitgeschichte in München und einzelnen Medien sowie die wichtigen Reaktionen von Rainer Eisfeld und Hannah Bethke sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Darauf aufbauend muss eine weitere zeitgeschichtliche Kontextualisierung und Differenzierung erfolgen: Insbesondere gilt es, den Demokratiebegriff Eschenburgs zu historisieren, seine Person in all ihren Facetten in den Blick zu nehmen, wichtige und unbequeme Fragen zu stellen und auch erste Antworten zu formulieren.

 
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