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12.3 Humanistische Theorien

Humanistische Ansätze zum Verständnis der Persönlichkeit zeichnen sich durch die besondere Betonung der Integrität der persönlichen und bewussten Erfahrungen einer Person und ihres Wachstumspotenzials aus. In diesem Abschnitt werden Sie sehen, wie humanistische Theoretiker Konzepte zum Selbst entwickelt haben. Sie werden darüber hinaus auch lernen, inwiefern humanistische Theorien sich von anderen Persönlichkeitstheorien abheben.

12.3.1 Merkmale humanistischer Theorien

Carl Rogers (1902-1987) begründete die Klienten zentrierte bzw. Personenzentrierte Psychotheisp in Deutschland, welche häufig auch Gesprächspiy chotherapio (GT) genannt wird. Rogers Arbeiten st’

len das Bedürfnis des Menschen nach Selbstverwirklichung. Anerkennung und innerem Wachstum heraus. Für Rogers ist das Selbst ein zentrales Konzept der Persönlichkeit. Er ging davon aus. dass Menschen ein Selbstkonzept entwickeln, ein mentales Modell typischer Verhaltensweisen und einzigartiger Eigenschaften. Rogers war überzeugt, dass wir beim Älterwerden danach trachten, eine Kongruenz zwischen unserem Selbstkonzept und unserem gegenwärtigen Erleben aufrechtzuerhalten. Rogers Betonung des Selbst zeichnet sämtliche humanistische Theorien aus. Es geht um den Wunsch zur Selbstverwirklichung. das unentwegte Streben, noch verborgenes Potenzial zur Entfaltung zu bringen. Erinnern Sie sich aus Kapitel 10. dass Abraham Maslow die Selbstverwirklichung an die Spitze seiner Bedürfnispyramide stellte. Das Streben nach Selbsterfüllung ist eine konstruktive, lenkende Kraft, die jeden Menschen zu generell positiven Verhaltensweisen und einem Wachstum des Selbst führt.

Warum betonte Carl Rogers die unbedingte positive Wertschätzung von Eltern gegenüber ihren Kindern?

Das Streben nach Selbstverwirklichung kommt zuweilen in Konflikt mit dem Bedürfnis nach Akzeptanz durch sich selbst und andere: insbesondere dann, w'enn eine Person das Gefühl hat, bestimmte Verpflichtungen und Bedingungen erfüllen zu müssen, um Akzeptanz zu erlangen. Rogers (1947.1951, 1977) betonte beispielsweise die Bedeutung der unbeding

ten positiven Wertschätzung bei der Erziehung von Kindern. Damit meinte er. dass Kinder immer das Gefühl haben sollten, geliebt und akzeptiert zu werden, trotz Fehler und Fehlverhalten. Kinder sollen die Liebe ihrer Eltern nicht verdienen müssen. Er empfahl Eltern, bei einem Fehlverhalton ihres Kindes zu betonen. dass es das Verhalten ist und nicht das Kind, das sie missbilligen. Unbedingte positive Wertschätzung ist auch im Erwachsenenalter wichtig, weil die Sorge um das Streben nach Akzeptanz mit der Solbstvnr-wirklichung interferiert. Als Erwachsener müssen Sie den Menschen, die Ihnen nahestehen, unbedingte positive Wertschätzung entgogenbringen und diese auch erhalten. Am wichtigsten ist aber, dass Sie ein Gefühl der unbedingten positiven Sa/bstwertschätzung empfinden, eine Akzeptanz Ihrer selbst, trotz der Schwächen, an denen Sie vielleicht noch arbeiten.

Obwohl ihr Beitrag in diesem Zusammenhang oft nicht ausreichend gewürdigt wird, trugen auch Karen Horneys Ideen zur Grundlage der humanistischen Psychologie bei (Frager & Fadiman. 1998). Horney war überzeugt, dass Menschen ein „wahres Selbst" besitzen, das günstige Umweltbedingungen für seine Verwirklichung braucht. Dazu gehört eine Atmosphäre der Wärme, das Wohlwollen anderer und elterliche Liebe für ein Kind als „besondere Person" (Horney, 1945, 1950). Fehlen diese günstigen Umweltbedingungen, entwickelt das Kind eine grundlegende Angst, welche den spontanen Ausdruck echter Gefühle hemmt und tiefe Beziehungen zu anderen verhindert. Um mit dieser grundlegenden Angst fertig zu worden, greifen Individuen zu zwischenmenschlichen und innerpsychischon Abwehrmaßnahmen. Zwischenmenschliche Abwehrmaßnahmen führen zur Bewegung auf andere zu (durch übermäßige Folgsamkeit und Selbstverleugnung), gegen andere (durch aggressive, arrogante oder narzisstische Lösungen) und von anderen weg (durch Absonderung). Aufgrund innerpsychischor Abwehrmaßnahmen entwickeln einige Menschen ein unrealistisches, idealisiertes Selbstbild. Um einem eindrucksvollen Selbstkonzept zu entsprechen, wird zur Legitimierung eine „Suche nach Ruhm" ausgelöst und ein Selbstsystem erzeugt, das nach starren Verhaltensregeln funktioniert. Solche Menschen leben oft unter der „Tyrannei des Sollens“, mit selbst auferlegten Verpflichtungen wie „Ich sollte perfekt, großzügig, attraktiv und tapfer sein“ und dergleichen mehr. Homey glaubte, dass das Ziel einer humanistischen Therapie darin bestünde, dem Individuumdabei zu helfen, die Freude an der Selbstverwirklichung zu erlangen und die innewohnenden konstruktiven Kräfte im Wesen des Menschen zu fördern, die ein Streben nach Selbsterfüllung unterstützen.

Wie Sie gesehen haben, betonen humanistische Theorien die Selbstverwirklichung oder den Fortschritt in Richtung des wahren Selbst. Darüber hinaus wurden humanistische Theorien auch noch als holistisch, dispositional, phänomenologisch und existenzialistisch beschrieben. Sehen wir uns an, weshalb.

Humanistische Theorien sind holistisch, sie beschreiben Menschen nicht als Summe diskreter Eigenschaften (traits), von denen jede das Verhalten in unterschiedlicher Weise beeinflusst. Vielmehr werden einzelne Handlungen von Personen in Begriffen einer Gesamtpersönlichkeit beschrieben. Maslow ging davon aus, dass Menschen intrinsisch motiviert sind, sich den weiter oben liegenden Ebenen der Bedürfnispyramide (die wir in Kapitel 10 besprochen haben) zu widmen, sofern sie nicht durch Verluste auf den darunter hegenden Ebenen davon abgehalten werden.

Humanistische Theorien sind dispositional, weil sie sich auf die angeborenen Eigenschaften innerhalb einer Person konzentrieren, die großen Einfluss auf die Richtung haben, die das Verhalten nehmen wird. Situative Faktoren werden als Beschränkungen und Barrieren betrachtet (wie Schnüre, die einen Ballon am Boden festhalten). Sobald sie von negativen situativen Bedingungen befreit sind, sollte die Selbstverwirklichungstendenz Menschen aktiv zur Wahl von lebensbereichernden Situationen führen. Humanistische Theorien sind jedoch nicht im selben Sinne dispositional wie Trail-Theorien oder psychodynamische Theorien. Bei diesen Theorien sind persönliche Dispositionen ein wiederkehrendes Thema, das sich immer wieder im Verhalten ausdrückt. Humanistische Dispositionen sind speziell auf Kreativität und Wachstum ausgerichtet. Jedes Mal, wenn eine humanistische Disposition zum Einsatz kommt, verändert sich eine Person geringfügig, sodass die Disposition nie zweimal auf die gleiche Weise zum Ausdruck kommt. Im Laufe der Zeit führen humanistische Dispositionen das Individuum zur Selbstverwirklichung, dem reinsten Ausdruck dieser Motive.

Humanistische Theorien sind phänomenologisch, weil sie das individuelle Bezugssystem und die subjektive Sicht der Realität betonen - nicht die objektive Perspektive eines Beobachters und einer Beobachterin oder eines Therapeuten und einer Therapeutin Insofern bemühen sich humanistisch arbeitende Psv chologinnen und Psychologen stets darum, die besondere Sichtweise eines jeden Menschen zu verstehen Diese Sichtweise ist auch auf die Gegenwart gerichtet-Einflüsse aus der Vergangenheit sind nur insofern relevant, als sie die Person in die momentane Situation gebracht haben. Die Zukunft repräsentiert die zu erreichenden Ziele. Insofern betrachten humanistische Theorien im Gegensatz zu psychodynamischen Theorien das momentane Verhalten nicht als etwas das imbewusst von vergangenen Erfahrungen gelenkt wird.

Die optimistische humanistische Betrachtung der Persönlichkeit war für viele Psychologinnen und Psychologen, die mit einer bitter schmeckenden Freudschen Kost aufgewachsen waren, ein willkommener Genuss. Humanistische Ansätze konzentrieren sich unmittelbar auf die Verbesserung - darauf, das Leben angenehmer zu gestalten statt schmerzhafte Erinnerungen ans Licht zu zerren, die manchmal besser verdrängt bleiben. Die humanistische Perspektive betont die Fähigkeit jedes Menschen, sein volles Potenzial zu verwirklichen.

 
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