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9.2 Kognitive Entwicklung im Laufe des LebensWie verändert sich das individuelle Verständnis der physikalischen und sozialen Realität im Laufe des Lebens? Die Forschung zur kognitiven Entwicklung befasst sich mit der Entstehung und Veränderung der Prozesse und Produkte des Denkens. Dabei sind insbesondere die früheren Stufen der kognitiven Entwicklung von Interesse, es werden aber auch einige Erkenntnisse über die kognitive Entwicklung im Erwachsenenalter beschrieben. Wie das Denken sich entwickelt Unsere Betrachtung der kognitiven Entwicklung beginnt mit den Pionierarbeiten dos Schweizer Forschers Jean Piaget. 9.2.1 Piagets Erkenntnisse über die geistige EntwicklungJean Piaget (1929, 1954, 1977) hat fast 50 Jahre lang Theorien über des Denken, Schlussfolgern und Problemlosen von Kindern entwickelt. Womöglich entstand sein Interesse an kognitiver Entwicklung aus seiner eigenen, intellektuell sehr besonderen Jugend: Mit zehn Jahren veröffentlichte Piaget seinen ersten Aufsatz, und mit 14 Jahren wurde ihm eine Tätigkeit als Museumskuratorangeboten (Brainerd, 1996). Zur Schaffung seiner komplexen Theorien über die frühe geistige Entwicklung nutzte Piaget aufschlussreiche Beobachtungen und Befragungen seiner eigenen und anderer Kinder. Sein Interesse galt nicht der Menge an Informationen, über die Kinder verfügen, sondern der Art und Weise, wie sich ihr Denken und ihre mentalen Repräsentationen der physikalischen Realität im Laufe verschiedener Entwicklungsstufen durch Erfahrungen mit der Umwelt veränderten. Bausteine der entwicklungsbedingten Veränderung Piaget benutzte den Begriff Schema für geistige Strukturen, mit deren Hilfe Menschen die Welt interpretieren und Handlungen steuern. Schemata sind Vermittler zwischen Wahrnehmung und Wissen, Bausteine der entwicklungsbedingten Veränderung. Piaget bezeichnete die ersten Schemata von Säuglingen als sensumotorische Stufe, Intelligenz kommt durch sensorische und motorische Fähigkeiten zum Ausdruck - mentale Strukturen oder Programme, die sensumotorische Sequenzen wie Saugen, Betrachten, Greifen usw. steuern. Durch Übung werden elementare Schemata zu immer komplexeren, vielfältigeren Handlungsmustern kombiniert, integriert und differenziert. Ein Beispiel dafür wäre, wenn ein Kind ein ungeliebtes Objekt wegschiebt, um nach einem dahinter liegenden, begehrten Objekt zu greifen. Die Bildung neuer, komplexer kognitiver Strukturen sind Anpassungsleitungen des Organismus an die Umwelt. Kognitive Entwicklung ist zunehmende Anpassung an die Umwelt. Sie wird nach Piaget durch zwei zentrale Funktionsweisen erklärt: Assimilation und Akkommodation. Bei der Assimilation werden eintreffende Informationen mit Hilfe bereits verstandener Konzepte (Schemata) interpretiert (Reizgeneralisierung). Das Kind greift auf vorhandene Schemata zurück, um eintreffende sensorische Informationen zu strukturieren. Bei der Akkommodation werden vorhandene Wissensstrukturen als Reaktion auf neue Erfahrungen angepasst. So entstehen neue Schemata oder bestehende Schemata werden modifiziert - es entstellen neue Handlungsmuster, um das eigene Denken an die Umweltgegebenheiten und -erfordernisse anzupassen (Reizdiskrimination). Betrachten wir die Übergänge, die ein Kind vollziehen muss, um vom Saugen an der Mutterbrust über das Saugen an einer Trinkflasche und das Saugen an einem Trinkhalm dahin zu kommen, schließlich aus einer Tasse zu trinken. Die anfängliche Saugreaktion ist ein bei der Geburt vorhandenes Reflexverhalten, das den Säugling in die Lage versetzt an der Mutterbrust zu trinken. Beim Trinken aus der Flasche kann der Säugling viele Teile der angeborenen Saugreaktion in unveränderter Form nutzen (Assimilation), muss aber den Sauger etwas anders fassen und die Saugstärke ändern, um Flüssigkeit zu erhalten, auch muss die Flasche in einem geeigneten Winkel gehalten werden (Akkommodation). Die Schritte von der Flasche zum Trinkhalm und zur Tasse erfordern weitere Akkommodationsleistungen, basieren jedoch immer noch auf der früheren Saugfähigkeit. Für Piaget war kognitive Entwicklung das Ergebnis eines solchen Ineinandergreifens von Assimilation und Akkommodation. Die ausgewogene Anwendung von Assimilation und Akkommodation ermöglicht, dass das Verhalten und Wissen des Kindes unabhängiger von der konkreten externen Realität wird und sich stärker auf abstraktes Denken stützt. Stadien der kognitiven Entwicklung Nach Piagets Verständnis verläuft die geistige bzw. kognitive Entwicklung des Menschen über qualitativ-unterscheidbare Stufen (Entwicklungsphasen). Diese Stufen unterscheiden sich primär darin, wie Kinder ihr Wissen über die Welt subjektiv repräsentieren. Innerhalb jeder der vier Stufen (^Tabelle 9.2] geht es darum, unkoordinierte oder schlecht koordinierte Schemata in logische Strukturen zu integrieren. Piaget ging davon aus, dass alle Kinder diese Stadien in derselben Reihenfolge durchlaufen. Beim Erreichen höherer Stufen gehen die Fähigkeiten der vorausgehenden Stufen nicht verloren; auch die Aktivitäten der verschiedenen Stufen verbinden sich systematisch. Die Lebensalterangaben sind heute nicht mehr so ernst zu nehmen; es gibt große interindividuelle und intraindividuell bereichsspezifische Unterschiede beim Erreichen der und Verweilen in den einzelnen Phasen.
Das sensumotorische Stadium: Das sensumotorische Stadium erstreckt sich von der Geburt bis zum zlter von etwa zwei Jahren. Kinder erwerben in dieser Zeit praktisch-räumliche Umgangsweisen in ihrer Umwelt, mit denen sie gleichzeitig die sinnliche Wahrnehmung organisieren. In den ersten Monaten beruht ein Großteil des Verhaltens des Säuglings auf einer begrenzten Reihe von angeborenen Reflexen, ersten Schemata wie Saugen, Schlucken und Greifen. Im ersten Jahr werden sensumotorische Sequenzen verbessert, kombiniert, koordiniert und integriert (beispielsweise Saugen plus Greifen, Betrachten plus Anfassen). Die Sequenzen werden vielfältiger, wenn Kleinkinder entdecken, dass ihre Handlungen Auswirkungen auf äußere Ereignisse haben. Die wichtigste kognitive Funktion, die während dieser Zeit erworben wird, ist die Objektpermanenz, die Fähigkeit, mentale Repräsentationen von nicht vorhandenen Objekten - mit denen das Kind nicht in direktem sensomotorischem Kontakt steht - auszubilden. Der Begriff der Objektpermanenz bezieht sich auf das Wissen eines Kindes darum, dass Personen oder Objekte unabhängig von seinen Handlungen oder seinem Bewusstsein existieren. In den ersten Lebensmonaten folgen Kinder Objekten mit den Augen, aber sobald die Objekte aus dem Blickfeld verschwinden, wenden sich die Kinder ab, als ob die Objekte auch aus ihrem Bewusstsein verschwunden wären. Mit etwa drei Monaten fangen sic jedoch an, den Ort weiter zu beobachten, an dem die Objekte verschwunden sind. Zwischen acht und zwölf Monaten beginnen Kinder, nach den verschwundenen Objekten zu suchen. Spätestens im Alter von zwei Jahren besteht bei den Kindern keine Unsicherheit mehr darüber, dass „nichtsichtbare“ Objekte existieren (Flavell, 1985). Das präoperatorische Stadium: Das präoperatori-sche Stadium erstreckt sich in etwa zwischen zwei und sechs Jahren. Das Kind kann sich Weltausschnitte und den Umgang mit ihnen mental vorstellen, auch wenn sie nicht aktuell präsent sind. Dadurch kann es Zusammenhänge denken, z. B. ursächliche Beziehungen (Kausalität) oder einen längeren und unübersichtlichen Weg zu einem bestimmten Ziel. Dio Zusammenhänge werden aber noch oft falsch oder zu einfach gedeutet, weil es noch nicht über die eigentlichen konkreten Operationen verfügt. Der große kognitive Fortschritt auf dieser Entwicklungsstufe ist die verbesserte Fähigkeit zur mentalen Repräsentation von physikalisch nicht vorhandenen Objekten. Abgesehen von dieser Entwicklung beschreibt Piaget das präoperatorische Stadium anhand dessen, was das Kmd noch nicht kann. So glaubt Piaget beispielsweise, dass das präoperatorische Denken kleiner Kinder durch Egozentrismus geprägt ist. die Unfähigkeit, sich in eine andere Person hinein zu versetzen, ihre Perspektive zu übernehmen. Ihnen ist dieser Egozentrismus vielleicht aufgefallen, wenn Sie schon einmal das Gespräch eines zweijährigen Kindes mit anderen Kindern gehört haben. In diesem Alter scheinen Kinder mit sich selbst zu sprechen, anstatt zu interagieren. Präoperatorische Kinder unterliegen auch dum Phänomen der Zentrierung - sie neigen dazu, ihre Aufmerksamkeit auf lediglich einen Aspekt einer Situation zu richten und andere relevante Aspekte zu vernachlässigen. Ihnen fehlt z. B. das Verständnis dafür, dass die Menge einer Flüssigkeit beim Umschütten erhalten bleibt, auch wenn sich die Größe oder Form des Behälters verändert, in dem sich die Flüssigkeit dann befindet. Aus der Forschung Wenn dieselbe Menge Limonade in zwei identische Gläser gegossen wird, geben fünf und sieben Jahre alte Kinder an, beide Gläser enthielten dieselbe Menge Flüssigkeit. Wenn aber die Limonade aus einem breiten Glas in ein hohes, schmales Glas gegossen wird, unterscheiden sich ihre Meinungen. Die Fünfjährigen wissen zwar, dass die Limonade in dem hohen Glas dieselbe Limonade wie zuvor ist, sagen aber, dass es jetzt mehr Limonade sei, weil die Flüssigkeitssäule im Glas angestiegen ist. Die Siebenjährigen stellen zutreffend fest dass es keinen Mengenunterschied gibt. ![]() Piaget beobachtete, dass ein typisches sechs Monate altes Kind sich mit einem attraktiven Spielzeug beschäftigen wird (links), aber schnell das Interesse verliert, wenn ein Sichtschirm das Spielzeug aus dem Blick des Kindes entfernt (rechts). Welches Verständnis von Objekten wird das Kind im Alter von zwei Jahren erreichen? In Piagets Demonstration zentrieren sich die jüngeren Kinder auf eine einzige, wahrnehmbare Dimension -den Pegelstand der Limonade im Glas. Die älteren Kinder berücksichtigen sowohl Höhe als auch Breite und schlussfolgern richtigerweise, dass der Anschein keinen Rückschluss auf die Menge zulässt. Das konkret-operatorische Stadium: Das konkret-operatorische Stadium dauert von etwa dem sechsten bis zum elften Lebensjahr. Dass Kinder mehrere Aspekte der gleichen Realität gleichzeitig und realitätsgerecht berücksichtigen können, macht die konkret-operatorische Stufe aus. Kinder sind z. B. in der Lage sich vorzustellen, dass der Transport von sechs Kisten zum gleichen Ergebnis führt, wenn man dreimal läuft und je zwei Kisten trägt, wie wenn man zweimal läuft und je drei Kisten trägt. Diese mentalen Operationen sind Handlungen, die im Geist ausgeführt werden können und zur Entwicklung des logischen Denkens führen. Konkrete Operationen ermöglichen es Kindern, eine physikalische Handlung durch eine geistige zu ersetzen. Nach Piagets Überzeugung erreichen diese Vorstellungsschemata ab etwa dem sechsten Lebensjahr auf breiter Front Operationscharakter, d. h. sie vernetzen sich zu verlässlichen reversiblen kognitiven Strukturen. Die Limonadenstudie gibt ein Beispiel für einen weiteren Meilenstein im konkret-opera-torischen Stadium. Die Siebenjährigen haben das gemeistert, was Piaget das Prinzip der (Mengen) Erhaltung (Invarianzprinzip) nannte: Sie wissen, dass sich die physikalischen Eigenschaften von Objekten nicht ändern, wenn nichts hinzugefügt oder weggenommen wird, obwohl sich das Aussehen (die Form) der Objekte verändern kann. »Abbildung 9.6 zeigt Beispiele für die von Piaget entwickelten Tests des Invarianzprinzips für verschiedene Mengendimensionen. Eine der neu erworbenen Operationen, die Kinder bei Aufgaben zur Erhaltung einsetzen, ist die Reversibilität (Umkehrbarkeit). Reversibilität bezeichnet das Verständnis des Kindes dafür, dass sowohl gegenständliche Handlungen als auch geistige Operationen kognitiv zurückgenommen und wiederholt werden können, z. B. die Umkehrbarkeit logischer Operationen wie beispielsweise Addition durch Subtraktion (A + B = C und B = C — A) oder Division durch Multiplikation. ![]() Abbildung 9.6: Tests zum Prinzip der Mengenerhaltung (Invarianzprinzip) Das formal-operatorische Stadium: Das formal-ope-ratorische Stadium beginnt etwa um das elfte Lebensjahr, bisweilen auch später. Ab dieser Stufe wird der abstrakte Umgang mit der Welt möglich, d. h. der Umgang mit Namen und Zeichen ohne aktuelle Vorstellung des Gemeinten. Wie auf der ersten, zweiten und dritten Stufe geht es auch auf dieser hier darum, zunächst unverbundene kognitive Aktionsschemata in kognitive Strukturen (Strukturgenese) einzubinden, woraus die formalen Operationen entstehen. Wer z. B. weiß, dass ein Quadrat zur Klasse der Vierecke gehört und folgende Eigenschaften hat: die vier Seiten sind gleich lang, die vier Innenwinkel gleich groß, es hat vier Symmetrieachsen, es ist 4-zählig drehsymmetrisch, punktsymmetrisch und die beiden Diagonalen sind gleich lang, kann verlässlich schließen, dass die Fläche eine Quadrats von 2 m Länge 4 m2 umfasst. Adoleszente sind zudem in der Lage zu erkennen, dass ihre Realität nur eine von mehreren vorstellbaren Realitäten ist, und sie fangen an, sich über die großen Fragen der Welt, über Gerechtigkeit und das Dasein an sich Gedanken zu machen. Sie suchen systematisch nach Antworten und sind in der Lage, hypothetisch zu denken und mehrere Möglichkeiten der Reihe nach auszuprobieren bzw. durchzuspielen. Außerdem können sie zunehmend die Art von fortgeschrittener deduktiver Logik, die in Kapitel 8 beschrieben wurde, anwenden. |
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