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9.1 Körperliche Entwicklung im Laufe des Lebens

Wir beginnen mit einem Bereich der Entwicklung, in dem Veränderungen offenkundiger als in anderen und für ungeübte Beobachtende leichter erkennbar sind: der körperlichen Entwicklung. Weil körperliche Veränderungen so zahlreich auftreten, werden wir uns auf diejenigen Veränderungen konzentrieren. die einen Einfluss auf die psychische Entwicklung haben.

Bis zur Geburt generiert das Gehirn eines sich entwickelnden Fetus Milliarden von Neuronen. Worauf muss das Gehirn vorbereitet sein, sobald das Kind die Welt betritt?

9.1.1 Pränatale Entwicklung und Entwicklung während der Kindheit

Auch Sie haben Ihr Leben mit einem einzigartigen genetischen Potenzial begonnen: Im Moment der Empfängnis befruchtete ein männliches Spermium eine weibliche Eizelle und bildete so die einzellige Zygote. Sie erhielten die Hälfte der 46 Chromosomen, die sich in allen normalen menschlichen Körperzellen finden, von Ihrer Mutter, und die andere Hälfte von Ihrem Vater. In diesem Abschnitt werden wir die körperliche Entwicklung in der pränatalen Phase umreißen, vom Moment der Empfängnis bis zum Moment der Geburt. Wir werden auch einige der sensorischen Fähigkeiten beschreiben, die Kinder noch vor der Geburt erwerben und schließlich auch die wichtigen körperlichen Veränderungen, die sie in der Kindheit erfahren.

Körperliche Entwicklung im Mutterleib

Die ersten zwei Wochen nach Bildung der Zygote werden als Zygotenstadium der pränatalen Entwicklung bezeichnet. Es umfasst die Zeitspanne von der Befruchtung bis zur Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter. In diesem Stadium fangen die Zellen an, sich sehr schnell zu teilen; nach etwa einer Woche bindet sich die Ansammlung mikroskopischer Zellen an die Gebärmutter. Die dritte bis achte Woche der pränatalen Entwicklung gilt als Embryonalstadium. In dieser Phase hält die rasante Zellteilung an und die Zellen sind nun so spezialisiert, dass daraus verschiedene Organe hervorgehen können. Mit der Entwicklung dieser Organe kommt es zum ersten Herzschlag. Reaktionen auf Stimulation wurden schon ab der sechsten Woche beobachtet, wenn der Embryo noch unter 2,5 Zentimeter groß ist. Spontane Bewegungen werden ab der siebten oder achten Woche beobachtet (Stanojevic et al., 2011). Zeitgleich mit dem sich entwickelnden Embryo entsteht ein Unterstützungssystem, das für das Überleben des Embryo unabdingbar ist, dazu gehören die Nabelschnur, die Fruchtblase und die Plazenta, die den Stoffaustausch (Sauerstoff, Nährstoffe) zwischen den Blutkreisläufen von Mutter und Kind ermöglicht.

Das Fötalstadium dauert vom Ende der achten Woche (9. Schwangerschaftswoche) bis zur Geburt an. Die Binnendifferenzierung der Strukturen und Funktionen des Organismus setzt sich in diesem Stadium fort, wobei auch schon zunehmend Informationen sensorisch aufgenommen werden können. Die Sinnesorgane entwickeln sich so weit, dass alle wesentlichen Sinnesleitungen (Sehen, Hören, Geschmack, Geruch und Tastsinn) schon vorgeburtlich ausgebildet werden und zur Verfügung stehen, wenn der Säugling geboren wird. Die Mutter spürt die Bewegung des Fetus etwa ab der sechzehnten Schwangerschaftswoche. Zu diesem Zeitpunkt ist der Fetus

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Während der neun Monate vor der Geburt bilden sich im Gehirn über 100 Milliarden Neurone (nach Restate 1984)

Abbildung 9.2: Die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Während der neun Monate vor der Geburt bilden sich im Gehirn über 100 Milliarden Neurone (nach Restate 1984).

etwa 18 Zentimeter groß (die durchschnittliche Größe bei der Geburt beträgt etwa 50 Zentimeter). Die meisten der 100 Milliarden Neurone eines Erwachsenen sind bereits im Mutterleib entstanden (Stiles & jemigan. 2010). Bei Menschen und anderen Säugetieren findet der Großteil der Zell Vermehrung und der Wanderung von Neuronen an ihren korrekten Platz vor der Geburt statt. Die Entwicklung des Verzweigungsvorgangs der Axone und Dendriten findet dagegen hauptsächlich nach der Geburt statt. Die Abfolge der Gehirnentwicklung, vom 30. Tag bis zum 9. Monat, ist in * Abbildung 9.2 dargestellt.

Während der Schwangerschaft können Umweltfaktoren wie Infektionen, Strahlung oder Drogen die normale Bildung von Organen und Körperstrukturen verhindern. Umweltfaktoren, die zu strukturellen Anomalitäten des Fetus führen, werden Teratogene genannt. Zu den Teratogenen gehören insbesondere:

■ Alkohol und Drogen

■ Rauchen

■ Spezifische Medikamente

■ Umweltgifte oder Strahlenschäden und

■ Infektionserkrankungen der Mutter

Wenn sich beispielsweise Mütter nach der Empfängnis mit Röteln infizieren, leidet das Kind häufig an negativen Folgeerscheinungen wie geistiger Behinderung, Sohschäden, Taubheit oder Herzschäden. Erfolgt die Infektion in den ersten sechs Wochen nach der Empfängnis, liegt die Wahrscheinlichkeit negativer Auswirkungen bei nahezu 100 Prozent (De Santis et al., 2006). Bei einer späteren Ansteckung wird die Wahrscheinlichkeit von Folgeerscheinungen geringer (zum Beispiel 50 Prozent im vierten Monat und 6 Prozent im fünften Monat). In ähnlicher Weise setzen Mütter, die während kritischer Phasen bestimmte Substanzen wie /Mkohol konsumieren, ihre ungeborenen Kinder dem Risiko von Hirnschädigungen und anderen Beeinträchtigungen aus (Bailey & Sokol. 2008). Das fetale Alkoholsyndrom ist die schwerwiegendste Folge vom Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Kinder mit einem fetalen Alkoholsyndrom haben häufig kleine Köpfe und Körper und Gesichtsanomalitäten. Störungen dos zentralen Nervensystems verursachen darüber hinaus kognitive und verhaltensbezogene Schwierigkeiten (Niccols, 2007).

Schwangere Frauen, die rauchen, setzen ihr Kind ebenfalls Risiken für Fehlgeburten, Frühgeburten und niedrigem Geburtsgewicht aus (Salihu & Wilson, 2007). Frauen, die während der Schwangerschaft als Passivraucherinnen dem Rauch anderer ausgesetzt sind, bringen ebenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit untergewichtige Babys zur Welt (Crane et al.. 2011). Schließlich schädigen fast alle illegalen Drogen den Fetus. Kokain beispielsweise gelangt durch die Plazentaschranke und kann die Entwicklung des Fetus unmittelbar beeinflussen. Bei Erwachsenen führt Kokain zur Verengung der Blutgefäße; bei schwangeren Frauen schränkt Kokain die Versorgung des Fetus mit Blut und Sauerstoff durch die Mutter ein. Wenn es zu einem schweren Sauerstoffmangel kommt, können Blutgefäße im Gehirn des Fetus platzen. Solche pränatalen Schlaganfälle können zu lebenslangen geistigen Behinderungen führen (Bennett et al., 2008; Singer et al„ 2002). Die Forschung legt nahe, dass die Gehirnbereiche, die am stärksten durch Kokain geschädigt werden, für die Kontrolle der Aufmerksamkeit verantwortlich sind: Kinder, die im Mutterleib in Kontakt mit Kokain kamen, werden möglicherweise ihr ganzes Leben lang damit zu tun haben, sich nicht durch irrelevante akustische und visuelle Reize ablenken zu lassen.

Wenn jemand die Wange eines Neugeborenen berührt, dann veranlasst der Suchreflex das Kind, nach etwas zu suchen, woran es saugen kann. Auf welche Weise sind Kinder noch für das Überleben vorprogrammiert?

Kinder sind auf das Überleben vorbereitet Welche Fähigkeiten sind in Körper und Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt bereits vorhanden, d. h. genetisch determiniert - „programmiert“? Es ist üblich, sich Neugeborene als hilflose Wesen vorzustellen. John Watson, der Begründer des Behaviorismus, beschrieb den menschlichen Säugling als „ein lebendiges. sich windendes Stück Fleisch, in der Lage, ein paar einfache Reaktionen zu zeigen“. Wenn Sie dem eher zustimmen, dann sind Sie vielleicht überrascht, zu erfahren, dass Säuglinge nur wenige Augenblicke nach Verlassen des Mutterleibs bereits erstaunliche Fähigkeiten zeigen. Säuglinge sind für das Überleben vorbereitet und darauf eingerichtet, auf elterliche Fürsorge zu reagieren und ihre soziale Umgebung zu beeinflussen.

Zunächst einmal verfügen Neugeborene über ein Repertoire an Reflexen, die erste Verhaltensreaktionen auf die Umwelt ermöglichen. Erinnern Sie sich an die Definition aus Kapitel 6: Ein Reflex ist eine Reaktion, die durch biologisch für den Organismus relevante Stimuli auf natürliche Weise hervorgerufen wird. Zwei Reflexe sind für das Überleben Neugeborener besonders wichtig. Wenn etwas ihre Wange berührt, wenden sie ihren Kopf in diese Richtung. Der Suchreflex hilft ihnen, die Brustwarze der Mutter oder eine andere Nahrungsquelle zu finden. Sobald sie etwas im Mund haben, beginnen Neugeborene zu saugen. Der Saugreflex sichert die Nahrungsaufnahme.

Säuglinge können auch schon vor der Geburt hören und sind damit darauf vorbereitet, auf bestimmte Geräusche zu reagieren, wenn sie geboren werden. Neugeborene hören lieber die Stimme ihrer Mutter als die Stimmen anderer Frauen (Spence & DeCasper, 1987; Spence & Freeman, 1996). Tatsächlich deuten neuere Forschungsarbeiten darauf hin, dass Kinder die Stimmen ihrer Mütter sogar schon vor der Geburt erkennen. In einer Studie beschleunigte sich der fetale Herzschlag als Reaktion auf die Stimme der eigenen Mutter und verlangsamte sich bei fremden Stimmen (Kisilevsky et al., 2009). Neugeborenen fällt es in der Regel leicht, das Gesicht ihrer Mutter zu erkennen, weil es mit einer Stimme assoziiert ist, die ihnen bereits vertraut ist (Sai, 2005). Angesichts dieser eindeutigen Reaktionen auf die Stimme der Mutter mögen Sie sich fragen, ob Kinder auch eher auf die Stimme des eigenen Vaters als auf jene anderer Männer reagieren. Der fetale Herzschlag verändert sich als Reaktion auf die väterliche Stimme nicht in vergleichbarer Weise wie bei der Stimme der Mutter.

Während der Zeit im Mutterleib scheinen Säuglinge nicht genügend akustische Erfahrung mit der Stimme ihrer Väter zu haben, um tatsächlich eine Präferenz für die väterliche Stimme entwickeln zu können (DeCasper & Prescott, 1984).

Die meisten Kinder erhalten erste visuelle Erfahrungen während der letzten beiden Monate im Mutterleib (Del Giudice, 2011). In der 7. Schwangerschaftswoche sind die Anlagen der Augen schon erkennbar. Eine Woche danach beginnt die Entwicklung der Augenlider. In der 25. Schwangerschaftswoche kann der Fötus bereits auf Licht, das durch die durchblutete Bauchwand fällt, reagieren - obwohl seine Augenlider noch geschlossen sind. Da die Bauchdecke und der Uterus der Mutter lichtdurchlässig sind, sehen Ungeborene im Mutterleib ein sanftes Licht in Rottönen. In der 27. Schwangerschaftswoche entwickelt sich die Netzhaut (Retina), die Augenlider öffnen sich in der 28. Schwangerschaftswoche und beginnen zu schlagen. Wird der Uterus untersucht, wendet sich das Baby vom Licht ab. Angesichts dieses Vorsprungs verwundert es nicht, dass Neugeborene ihr visuelles System unmittelbar nach der Geburt einsetzen; Wenige Minuten nach der Geburt sind die Augen eines Neugeborenen aufmerksam, wenden sich in Richtung einer Stimme und suchen forschend nach der Quelle bestimmter Geräusche. TYotzdem ist das visuelle System im Vergleich zu den anderen Sinnen bei der Geburt weniger gut entwickelt. Die Sehschärfe ist bei Erwachsenen etwa 40-mal größer als bei Neugeborenen (Sireteanu, 1999). Sie verbessert sich rapide während der ersten sechs Lebensmonate. Neugeborene sind auch noch nicht gut dafür ausgestattet, die Welt dreidimensional wahrzunehmen. Aus Kapitel 4 wissen Sie, dass wir zur Tiefenwahrnehmung auf eine große Bandbreite an Hinweisreizen angewiesen sind. Im Rahmen von Studien wurde aufgezeichnet, ab welchem Alter Säuglinge diese Hinweisreize interpretieren können. So beginnen beispielsweise Säuglinge im Alter von vier Monaten, Hinweise wie relative Bewegung und Interposition zu nutzen, um von dreidimensionalen Strukturen auf zweidimensionale Abbildungen von Objekten zu schließen (Shuwairi et al., 2007; Soska & Johnson, 2008).

Auch ohne perfektes Sehvermögen haben Kinder visuelle Präferenzen. Robert Fantz (1963), ein Pionier der Forschung auf diesem Gebiet, beobachtete, dass schon vier Monate alte Babys Objekte mit Konturen gegenüber glatten vorzogen, komplexe Objekte einfachen und vollständige Gesichter gegenüber Gesichtern präferierten, deren Merkmale in Unordnung waren. Weitere Untersuchungen legen nahe, dass Säuglinge bereits im Alter von drei Tagen kopflastige Anordnungen bevorzugen (Macchi Cassia et al., 2004). Um sich das vorzustellen, betrachten Sie einfach Ihr Gesicht im Spiegel - Ihre Augen, Augenbrauen und so weiter nehmen viel mehr Platz ein als Ihre Lippen. Die Tatsache, dass Gesichter optisch kopflastig sind, könnte erklären, warum Säuglinge menschliche Gesichter gegenüber anderen visuellen Mustern bevorzugen. Aber auch die Symmetrie spielt dabei eine Rolle, symmetrische Muster werden gegenüber unsymmetrischen präferiert.

Säuglinge können sehr früh große kontrastreiche Objekte wahmehmen. Welche visuellen Erfahrungen finden Neugeborene besonders interessant?

Sobald Kinder anfangen, sich in ihrer Umgebung zu bewegen, erwerben sie schnell andere perzeptuelle Fähigkeiten. So wurde beispielsweise in einer klassischen Studie von Eleanor Gibson und Richard Walk (1960) untersucht, wie Kinder auf Informationen über räumliche Tiefe reagieren. Dazu wurde eine Versuchsanordnung benutzt, die als visuelle Klippe (englisch: visual cliff) bezeichnet wird. Sie besteht aus einer Art Tisch, dessen Platte aus einer stabilen Glasfläche besteht. Wie * Abbildung 9.3 zeigt, ist eine Hälfte der Platte mit einem Schachbrettmuster unterlegt, bei der anderen Hälfte wird das Muster auf dem Boden (ca. 1 m tiefer) fortgesetzt, so dass ein Tiefeneindruck entsteht. In ihrer Originaluntersuchung zeigten Gibson und Walk, dass Kinder bereitwillig über die flache Seite krabbelten, aber zögerten, die tiefe Seite zu überqueren. Bereits früh im Kindesalter wird der Hinweis auf Tiefe beachtet. Zumindest einige Komponenten der Tiefenwahrnehmung scheinen angeboren zu sein. Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Furcht vor der tiefen Seite auch von Krabbelerfahrungen abhängt: Kinder, die schon krabbeln können, haben Angst vor der tiefen Seite, während nichtkrabbolnde Gleichaltrige keine Angst zeigen (Campos et al., 1992; Witherington et al., 2005), Respekt vor Höhe ist also nicht alleinig genetisch determiniert, sondern entwickelt sich, wenn Kinder anfangen, die Welt durch Fortbewegung zu erkunden, und dabei Erfahrungen sammeln.

Die visuelle Klippe. Sobald Kinder Erfahrungen damit gemacht haben, in ihrer Umgebung herumzukrabbeln, zeigen sie Furcht vor der tiefen Seite der visuellen Klippe

Abbildung 9.3: Die visuelle Klippe. Sobald Kinder Erfahrungen damit gemacht haben, in ihrer Umgebung herumzukrabbeln, zeigen sie Furcht vor der tiefen Seite der visuellen Klippe.

Wachstum und Reifung während der Kindheit Neugeborene Kinder verändern sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Wie »Abbildung 9.4 verdeutlicht, wachsen nicht alle Körperstrukturen gleich schnell. Ihnen ist vermutlich aufgefallen, dass Babys fast nur aus Kopf zu bestehen scheinen. Bei der Geburt hat der Kopf eines Babys schon fast 60 Prozent seiner Größe im Erwachsenenalter erreicht und macht ein Viertel der gesamten Körpergröße aus (Bayley, 1956). Das Körpergewicht eines Säuglings verdoppelt sich in den ersten sechs Lebensmonaten und verdreifacht sich bis zum ersten Geburtstag; im Alter von zwei Jahren ist der Rumpf eines Kindes etwa halb so groß, wie er im Erwachsenenalter sein wird. Das genitale Gewebe weist bis zum Teenageralter nur geringe Veränderungen auf und erreicht dann schnell die Proportionen eines Erwachsenen.

Wachstumsmuster im Verlauf der ersten beiden Lebensjahrzehnte

Abbildung 9.4: Wachstumsmuster im Verlauf der ersten beiden Lebensjahrzehnte. Neuronales Wachstum erfolgt während des ersten Lebensjahres sehr schnell, wesentlich schneller als das Wachstum des Körpers. Im Gegensatz dazu tritt vor der Adoleszenz keine Reifung der Genitalien auf.

Bei den meisten Kindern wird das körperliche Wachstum von der Reifung der motorischen Fähigkeiten begleitet. Als Reifung bezeichnet man Wachstumsprozesse, die typisch für alle Mitglieder einer Spezies eines bestimmten Lebensraums sind. Die charakteristischen Reifungssequenzen, die Neugeborene durchleben, werden durch die Interaktion zwischen Anlagen und Einflüssen der Umgebung gesteuert. Um die Einflüsse der Umgebung nachzuvollziehen. wird zwischen sensiblen Phasen und kritischen Phasen unterschieden. Bei der sensiblen Phasen handelt es sich um einen Zeitraum, in dem Kinder für den Erwerb bestimmter Verhaltensweisen besonders empfänglich sind. Aber auch wenn Umwelterfahrungen erst zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden können, tragen sie zur Entwicklung bei - der Erwerb wird nur schwieriger als in den sensiblen Phasen selbst. Eine kritische Phase ist ein bestimmter Zeitraum, in welchem bestimmte Entwicklungen sich grundlegend vollziehen und außerhalb dieses Zeitraums nicht mehr geändert werden können (z. B. die Entwicklung der Organe während der embryonalen Entwicklung).

Sehen wir uns beispielhaft die motorische Entwicklung näher an. In der reifungsgesteuerten Abfolge der Fortbewegung, wie sie in »Abbildung 9.5 dargestellt ist, lernt das Kind den aufrechten Gang ohne spezielles Training. Wohlgemerkt gibt die Abbildung 9.5 den Verlauf für ein „durchschnittliches" Kind wieder. Mitunter erreichen Kinder diese motorischen Meilensteine in ihrer eigenen Reihenfolge (Adolph et al., 2010). Einige Kinder überspringen sogar ein Stadium wie z. B. das Krabbeln oder bewegen sich statt zu krabbeln auf ihrem Hintern rutschend fort. Die Erforschung der Entwicklung hin zum aufrechten Gang trägt auch dazu bei, die Bedeutsamkeit von Umweltbedingungen besser zu verstehen. Kinder, mit denen zusätzlich motorisch geübt wird, können motorische Meilensteine schneller erreichen, wohingegen sich Kinder, deren motorische Erfahrungen eingeschränkt sind, langsamer entwickeln. Ungeachtet dieser individuellen Variationen besitzen alle nichtbehinderten Kinder dasselbe Potenzial für körperliche Reifung.

Die physische Entwicklung folgt zwei allgemeinen Prinzipien. Das cephalo-caudale Prinzip (von oben nach unten) besagt, dass die Entwicklung sich vom Kopf aus in Richtung Füße vollzieht. Beispielsweise können Kinder ihre Arme in der Regel eher kontrollieren als ihre Beine. Das proximo-distale Prinzip (von innen nach außen) besagt, dass sich nahe an der Mitte gelegene Körperteile eher entwickeln als die Extremitäten. Zum Beispiel entwickeln die Arme sich vor den Händen und die Hände vor den Fingern. Schließlich vollzieht Entwicklung sich in der Regel von grob- zu feinmotorischen Fähigkeiten. Grobmotorische Fähigkeiten beziehen sich auf größere Muskeln, wenn Kinder beispielsweise mit den Beinen strampeln oder sich abrollen. Foinmoton-sche Fähigkeiten erfordern eine präzisere Koordination kleinerer Muskelpartien, wie z. B. beim Greifen von Objekten, beim Dinge in der Hand halten oder in den Mund nehmen.

Der Reifungsfahrplan für die Fortbewegung

Abbildung 9.5: Der Reifungsfahrplan für die Fortbewegung. Die Entwicklung des taufens erfordert keine spezielle Unterweisung. Sie folgt einer festen, zeitlich geordneten Sequenz, welche für alle Mitglieder unserer Spezies typisch ist. die zum Laufen körperlich in der Lage sind.

 
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