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3.3 Das Nervensystem in Aktion

Die Neurowissenschaft ist eines der am schnellsten wachsenden Forschungsgebiete. Forschende in diesem Bereich werden Neurowissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler genannt. In diesem Kapitel widmen wir uns der Analyse und dem Verstehen derjenigen Prozesse, durch die Informationen von den Sinnesorganen mithilfe von Nervenimpulsen durch Körper und Gehirn transportiert und kommuniziert werden.

3.3.1 Das Neuron

Ein Neuron ist eine Zelle, die darauf spezialisiert ist, Informationen zu empfangen, zu verarbeiten und/ oder an andere Zellen innerhalb des Körpers weiterzuleiten. Neurone besitzen unterschiedliche Formen, Größen, chemische Zusammensetzungen und Funktionen, aber alle Neurone besitzen dieselbe grundlegende Struktur [*■ Abbildung 3.9).

Zwei Arten von Neuronen

Abbildung 3.9 Zwei Arten von Neuronen. Man beachte die Unterschiede in Form und Verzweigungen der Dendriten. Die Pfeile zeigen die Richtung an, in die Informationen fließen. Beide Zellen sind Formen von Interneuronen.

Ein Neuron, das Kontraktionen im menschlichen Darm beeinflusst. Welche Rollen spielen Dendriten, Soma und Axone bei der Nervenübertragung?

Neurone empfangen typischerweise an einem Ende Informationen und senden am anderen Ende Botschaften aus. Der Teil der Zelle, der ankommende Signale erhält, besteht aus einer Anzahl verästelter Fasern außerhalb des Zellkörpers, die man Dendriten nennt. Die Hauptaufgabe der Dendriten besteht darin, Erregung von Sinnesrezeptoren oder anderen Zellen zu empfangen. Der Zellkörper, oder das Soma, enthält den Zellkern (Nukleus) und das Zytoplasma, das die Zelle am Leben erhält. Das Soma integriert Informationen über die Stimulation, die von den Dendriten empfangen wird (oder in manchen Fällen direkt von einem anderen Neuron), und leitet sie über eine einzelne, ausgedehnte Faser, das Axon, weiter. Das Axon wiederum leitet diese Informationen seiner Länge nach weiter, die im Rückenmark über einen Meter und im Gehirn weniger als einen Millimeter betragen kann. Am anderen Ende des Axons befinden sich verdickte, knollenähnliche Strukturen, die Endknöpfchen, über die das Neuron angrenzende Drüsen, Muskeln oder andere Neurone stimulieren kann. Neurone übertragen normalerweise Informationen nur in eine Richtung: von den Dendriten über das Soma zum Axon bis hin zu den Endknöpfchen (► Abbildung 3.10).

Die Hauptstrukturen des Neurons

Abbildung 3.10: Die Hauptstrukturen des Neurons. Das Neuron erhält über seine Dendriten Nervenimpulse. Es sendet dann die Nervenimpulse durch sein Axon zu den Endknöpfchen, wo Neurotransmitter zur Stimulation anderer Neurone freigesetzt werden.

Es gibt drei Hauptarten von Neuronen: Sensorische Neurone, Motoneurone und Interneurone.

Hl Sensorische Neurone übermitteln Botschaften von Sinnesrezeptorzellen ans Zentralnervensystem. Rezeptorzellen sind hoch spezialisierte Zellen, die beispielsweise auf Licht, Geräusche oder Körperpositionen reagieren.

El Motoneurone leiten Botschaften weg vom Zentralnervensystem hin zu den Muskeln und Drüsen.

H Die Mehrzahl der Neurone im Gehirn sind Interneurone, die Botschaften von sensorischen Neuronen an andere Interneurone oder Motoneurone weiterleiten. Auf jedes Motoneuron im Körper kommen etwa 5.000 Intemeurone im riesigen Schaltnetz, aus dem sich das Verarbeitungssystem des Gehirns zusammensetzt.

Wie diese drei Arten von Neuronen Zusammenarbeiten, sieht man am Beispiel des Schmerzrückzugsreflexes (* Abbildung 3.11). Werden Schmerzrezeptoren nahe der Hautoberfläche mit einem scharfen Gegenstand stimuliert, senden sie Botschaften über die sensorischen Neurone zu einem Interneuron im Rückenmark. Das Interneuron reagiert, indem es Motoneurone stimuliert, die wiederum Muskeln im entsprechenden Körperteil veranlassen, sich von dem Schmerz erzeugenden Gegenstand zurückzuziehen. Erst nach dieser Abfolge von neuronalen Ereignissen und dem Rückzug des Körpers vom stimulierenden Objekt erhält das Gehirn Informationen über diese Situation. In Fällen, wo das Überleben von schnellem Handeln abhängt, nehmen wir den Schmerz erst wahr, wenn wir körperlich auf die Gefahr reagiert haben. Natürlich werden dann die Informationen über den Vorfall im Gedächtnissystem gespeichert, sodass wir beim nächsten Mal das potenziell gefährliche Objekt meiden, bevor es uns verletzen kann.

Mitte der 1990er-)ahre entdeckte Giacomo Rizzolati mit seiner Arbeitsgruppe durch einen Zufall einen neuen Neuronentyp (Rizolatti & Sinigaglia, 2010). Die Arbeitsgruppe untersuchte die Fimktion der Motoneuronen im Gehirn von Makaken (einer Affenart). Sie fanden heraus, dass bestimmte Neurone beim Ausfuhren motorischer Handlungen aktiv waren. Überrascht stellten sie fest, dass einige Neurone auch dann feuern, wenn die Affen lediglich beobachten, wie eine Person dieselbe Handlung ausführt! Diese Neuronen wurden Spiegelneuronen genannt, weil sie aktiviert werden, sobald jemand beobachtet, dass ein anderer eine Handlung ausführt. Wir wissen inzwischen, dass diese Spiegelneuronen auch im Gehirn von Menschen anspringen. Möglicherweise erlauben Spiegelneuronen, die Absichten des Verhaltens anderer zu begreifen. Stellen Sie sich vor, Sie sehen, wie sich die Hand Ihres Freundes zu einem Ball bewegt. Währenddessen beginnen Ihre eigenen Ballgreif-Neuronen zu feuern. Durch diese virtuelle Simulation, die Sie in die Rolle Uwes Freundes versetzt, haben Sie

Der Schmerzrückzugsreflex. Der hier gezeigte Schmerzrückzugsreflex benötigt nur drei Neurone

Abbildung 3.11: Der Schmerzrückzugsreflex. Der hier gezeigte Schmerzrückzugsreflex benötigt nur drei Neurone: ein sensorisches, ein motorisches und ein Interneuron.

augenblicklich den Gedanken, dass er den Ball greifen möchte. (Ramachandran 2011, S. 128). Spiegelneurone ermöglichen es also, auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen, um sich das Verhalten zu erklären bzw. dieses zu verstehen (Sinigaglia & Rizolatti, 2011). Spiegelneurone sind in der Lage, beobachtete Handlung als solche zu registrieren und Aktionen anderer nachvollziehbar zu machen. So legen sie den Grundstein für ein soziales Miteinander. Gilt es jedoch, sich in die handelnde Person hineinzuversetzen oder deren Emotionen mitzuempfinden, müssen anderen Systeme in Aktion treten.

Womöglich ist diesen Neuronen die großartige Fähigkeit der Menschen geschuldet, durch Beobachtung lernen zu können - was die kulturelle Evolution entscheidend voranbrachte.

Das weite Netz von Neuronen im Gehirn ist von der ungefähr fünf- bis zehnfachen Anzahl von Gliazellen (Stützzellen) durchsetzt. Das Wort Glia kommt vom griechischen Wort für Klebstoff, was auf eine der Hauptaufgaben dieser Zellen hinweist: Sie halten Neurone an ihrem Platz. Bei Wirbeltieren haben Gliazellen einige weitere wichtige Funktionen (Kettenmann & Verkliratsky, 2008):

DI Während der Entwicklung helfen sie neu gebildeten Neuronen den richtigen Ort im Gehirn zu finden.

a Sie helfen dem Gehirnstoffwechsel. Wenn Neurone geschädigt sind und absterben, vermehren sich die Gliazellen in diesem Bereich und entsorgen das übriggebliebene zelluläre Abfallmaterial.

El Gliazellen können zudem überschüssige Neurotransmitter und andere Substanzen aus dem synaptischen Spalt zwischen Neuronen aufnehmen.

El Gliazellen bilden um einige Arten von Axonen eine Hülle, die Myelinscheide. Diese Isolierungen aus Fett erhöhen die Geschwindigkeit der Übertragung von Nervensignalen ganz enorm.

Q| Gliazellen verhindern, dass giftige Substanzen im Blut die empfindlichen Zellen im Gehirn erreichen. Spezialisierte Gliazellen, sogenannte Astrozyten, bilden die Blut-Hirn-Schranke, indem sie die Blutgefäße im Gehirn mit einer beständigen Hülle aus Fett umgeben. Nicht fettlösliche Substanzen können diese Barriere nicht überwinden, und weil viele Gifte und andere gefährliche Substanzen nicht fettlöslich sind, können sie diese Barriere nicht durchdringen und ins Hirn gelangen.

Ei Außerdem gehen Neurowissenschaftler/-innen davon aus, dass Gliazellen wohl auch bei der neuronalen Kommunikation eine aktive Rolle spielen. Sie beeinflussen möglicherweise die Konzentration von Ionen, welche die Übertragung von Nervenimpulsen ermöglichen (Henneberger & Rusakov 2010). Es ist auch davon auszugehen, dass einige Gliazellen dieselbe Art elektrochemischer Signale wie Neurone generieren (Käradöttir et al., 2008).

Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit diesen Signalen.

 
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