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4. Zeitliche Dynamik der hedonischen Bewertungsprozesse

Hedonische Ereignisse, die die Konsumenten bewerten, erstrecken sich i. d. R über einen längeren Zeitraum (Kahneman et al. 1997, S. 376). Während Genuss und Schmerz im Moment erlebt werden, haben viele Entscheidungen Folgen, die sich über eine gewisse Zeit ausdehnen. Zum Beispiel basieren Entscheidungen, ob ein Urlaub, eine Diät oder eine medizinische Behandlung gewählt werden sollte, auf dem Nutzen, der n Tagen Urlaub, n Tagen Diät oder einer Folge von n Spritzen o. ä. zugewiesen wird (Varey und Kahneman 1992, S. 169). Der Nutzen eines Ereignisses endet demnach nicht im Jetzt oder mit dem Moment der Entscheidung, sondern erstreckt sich über die Zeit (extended outcomes) (Kahneman 1994, S. 21). Um strategisch und effektiv aus hedonischer Sicht nutzenmaximale Konsumerlebnisse selektieren zu können, reicht daher eine momentbasierte emotionsgetriebene Bewertung der Konsumaktivität nicht aus. Vielmehr sind hierzu ergänzende Bewertungsschritte notwendig: So versuchen Konsumenten das resultierende Vergnügen bzw. ihre emotionale Reaktion auf ein zukünftiges Konsumerlebnis exante zu schätzen (Wie werde ich mich dabei fühlen?) (Kahneman und Snell 1990, S. 295 f.; Kahneman et al. 1997, S. 377). Ein zukünftiges Erlebnis a-priori richtig einschätzen zu können, ist für den Entscheider von höchster Wichtigkeit, denn die Konsequenzen einer Entscheidung werden i. d. R. erst einige Zeit nach der eigentlichen Entscheidung erlebt (Kahneman und Snell 1990, S. 296; Kahneman und Varey 1991, S. 128). Diese Prognose des hedonischen Wertes eines zukünftigen Konsumerlebnisses soll dem Konsumenten daher als Grundlage dienen, um ein möglichst nutzenmaximales Erlebnis wählen zu können (erwarteter bzw. antizipierter Nutzen bzw. hedonic forecast) (Kahneman und Thaler 2006, S. 222; Kahneman und Varey 1991, S. 133).

Idealerweise und sofern vorhanden, nutzen Konsumenten in diesem Zusammenhang bestehende Erfahrungswerte. Diese basieren auf der retrospektiven Evaluation des gesamten Erlebnisses und den in diesem Zusammenhang erinnerten positiven und negativen Emotionen (Kahneman 1999, S. 4; Schreiber und Kahneman 2000, S. 27). Die Konsumenten greifen hierbei auf die retrospektive, gedächtnisbasierte Evaluation des Erlebten zurück. Demnach existiert neben der ad-hoc, in Echtzeit generierten Nutzenbewertung eines Erlebnisses (erlebter Nutzen) auch ein separater erinnerter Nutzen eines Erlebnisses (Kahneman et al. 1997, S. 375; Loewenstein und Prelec 1992, S. 673).

Um die Bewertung eines hedonischen Konsumgutes realistisch abbilden zu können, ist es insofern wichtig, die Zeitperspektive in die Betrachtung der emotionsbasierten Bewertung zu integrieren. Die zeitliche Dimension der Produktbzw. Service-Bewertung wird in bestehenden Ansätzen jedoch vielfach vernachlässigt. So wird im Rahmen des traditionellen Nutzenverständnisses beispielsweise angenommen, dass die Bewertung des Konsumenten referenzunabhängig und im Zeitverlauf stabil ist (Kahneman 2003; Sen 1993; Tversky und Kahneman 1986; 1991; Tversky et al. 1988). Auch das ursprüngliche hedonische Nutzenverständnis von Bentham unterstellt lediglich eine statische momentbasierte Bewertung (Kahneman 2000b, S. 694). Die gezielte Berücksichtigung der Zeitdimension bei der Wahl und bei der Bewertung eines Ereignisses leistet erst die hedonische Psychologie (Kahneman et al. 1999).

Nach Kahneman et al. variieren die Wahrnehmung und Bewertung des Erlebten mit dem Zeitpunkt der Betrachtung. So verändert sich die Beurteilung ein und desselben Objektes durch den Konsumenten in nicht-monotoner Art und Weise (Carmon und Wertenbroch 1997, S. 55; Rozin 1999, S. 112).

Die emotionsgetriebene Bewertung ist demnach weniger als statisches Phänomen, sondern vielmehr als dynamischer Prozess zu verstehen. Dieser Prozessgedanke impliziert, dass die Wahl eines hedonisch möglichst optimalen Konsumerlebnisses eine Bewertung des Konsumenten an mehreren Zeitpunkten (vor, während und nach dem Konsum) erfordert. Nach Kahneman erfolgt eine Nutzenbewertung an vier verschiedenen Zeitpunkten: 1) ex-ante in Form einer initialen Erwartungsbildung (Antizipation der Konsumemotionen bzw. antizipierter Nutzen), 2) im Moment der Entscheidung (Selektion des gewünschten Konsumerlebnisses auf Basis des Entscheidungsnutzens), 3) im Moment des eigentlichen Erlebnisses (tatsächliche emotionale Reaktion bzw. erlebter Nutzen) und 4) ex-post in Form einer retrospektiven Bewertung des Erlebnisses (globale Bewertung des vergangenen Konsumerlebnisses und der einhergehenden Emotionen bzw. erinnerter Nutzen) (z. B. Kahneman 1999; Kahneman et al. 1997). [1]

Eine aus hedonischer Sicht optimale Entscheidung maximiert den Nutzen in jeder Phase (Read 2007, S. 50). Allerdings sind die Beurteilung und Bewertung eines hedonischen Produktes durch den Konsumenten anfällig für Fehler und Verzerrungen. Aus traditionell ökonomischer Sicht sollte die Bewertung zu diesen Zeitpunkten identisch und über die Zeit konsistent sein (z. B. Sen 1993). Da Konsumenten jedoch nur begrenzt rationale Individuen sind (Simon 1955), resultieren mitunter signifikant abweichende Bewertungen ein und desselben Produktes bzw. Konsumerlebnisses zu verschiedenen Zeitpunkten durch eine einzelne Person (z. B. Kahneman 1999; Kahneman et al. 1997). So wissen Konsumenten beispielsweise im Vorhinein nicht immer, was sie zukünftig wollen bzw. mögen (werden) (Kahneman und Thaler 2006, S. 221 f.; Simonson 1990, S. 155) oder sie begehen systematische Fehler in der retrospektiven Bewertung von Erlebnissen (Kahneman 1994, S. 21). Daher gilt es, mögliche Verzerrungen der intertemporären Bewertungsprozesse zu berücksichtigen, um ein realistisches Abbild des Konsumentenverhaltens im Verlauf des hedonischen Konsumprozesses zu erhalten (Franke und Teichert 2009).

  • [1] In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass der Begriff des „Nutzens“ in der vorliegenden Arbeit nicht im Sinne des traditionell-ökonomischen Gedankens zu verstehen ist, sondern als weitergefasstes Konstrukt interpretiert wird, das den Wert eines Produktes bzw. einer Dienstleistung aus Sicht des Konsumenten zu einem bestimmten Zeitpunkt wiederspiegelt. Das Verständnis des Nutzenbegriffs lehnt sich insofern im Kontext der hier diskutierten Thematik an den englischen Begriff „Value“ an.
 
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