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Wirtschaftsunterricht aus der Sicht von Lehrpersonen
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2.1.2 Qualifizierung für ökonomische LebenssituationenDie Bedeutung ökonomischer Bildung als Teil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung wird in der fachdidaktischen Diskussion vor allem mit der Relevanz ökonomischer Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung und Gestaltung gegenwärtiger und zukünftiger ökonomisch geprägter Lebenssituationen von Schülerinnen und Schülern begründet und in modernen fachdidaktischen Ausführungen kompetenzorientert operationalisiert (vgl. u. a. Seeber et al. 2012). Im Hinblick auf die durchgeführte Studie ist die Qualifizierung für gegenwärtige und zukünftige Lebenssituationen vor allem in Bezug auf die Vorstellungen der Wirtschaftslehrpersonen zum Lernen und Lehren im Wirtschaftsunterricht relevant (vgl. Kapitel 6.2). In der Analyse der Lehrervorstellungen gilt es herauszuarbeiten, • inwiefern und inwieweit die Qualifizierung für ökonomische Lebenssituationen in den Interviews mit den Wirtschaftslehrpersonen eine Zielbzw. Bildungskategorie ökonomischer Bildung darstellt (vgl. Kapitel 6.3) und • welche gegenwärtigen und zukünftigen Lebenssituationen die Lehrerinnen und Lehrer als didaktische Auswahlkriterien für Inhalte und Methoden des Wirtschaftsunterrichts berücksichtigen (vgl. Kapitel 6.3 und 6.4). Auf Basis der im Folgenden skizzierten fachdidaktischen Relevanz der Qualifizierung für gegenwärtige und zukünftige ökonomische Lebenssituationen in der ökonomischen Bildung gilt es, die Vorstellungen der Lehrpersonen anschließend mit dem theoretischen Referenzrahmen zu vergleichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen (vgl. Kapitel 7.2). Die didaktische Orientierung an Lebenssituationen geht in Deutschland bis in die 1960er-Jahre auf die sogenannten „Robinsohn'schen Curriculumreformen“ zurück, die den damaligen Bildungskanon infrage stellten und im Hinblick auf die Allgemeinbildunsgrelevanz überprüften (vgl. Robinsohn 1967). Die bildungstheoretische Legitimation über Lebenssituationen ist ein gängiger fachdidaktischer Begründungszusammenhang, der nicht zuletzt durch die PISA-Studie [1] und die Diskussion von Literacy-Konzepten und Grundbildung an Aktualität gewonnen hat. In der ökonomischen Bildung geht der LebenssituationenQualifikationen-Ansatz im Wesentlichen auf Ochs und Steinmann (1978) zurück. Steinmann (1995, 1997) konkretisierte diese Ausführungen im Ansatz „Qualifizierung in Lebenssituationen“ (LSQ-Ansatz) und verknüpfte ihn mit dem Prinzip der Handlungsorientierung. Hier zeigt sich die Interdependenz zwischen den Zielen, Inhalten und Methoden ökonomischer Bildung: Schülerinnen und Schüler können nur mithilfe von solchen Methoden für gegenwärtige und zukünftige Lebenssituationen qualifiziert werden, die sie Handlungsfähigkeit erproben lassen. Der LSQ-Ansatz ist ein fachdidaktisches Konzept, das Lehrpersonen darin unterstützen soll, Bildungsziele mithilfe der Prämissen dieses Ansatzes zu bestimmen, Unterrichtsinhalte und methoden auszuwählen und fachdidaktisch zu rekonstruieren. Ziel des ökonomischen Unterrichts ist nach Steinmann (2008, S. 74f.), Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, ökonomisch geprägte Lebenssituationen gegenwärtig und in Zukunft flexibel bewältigen zu können, „[...] um (sich ändernde) Gegebenheiten besser ausnutzen, eingeräumte Rechte intensiver wahrnehmen und auferlegte Pflichten leichter tragen zu können […]“. Unter „Lebenssituationen“ versteht Steinmann für die Individuen einer Gesellschaft geltende, wiederkehrende Interaktionsmuster, die durch verschiedene Institutionen (Entscheidungssysteme, Verhaltensregeln und Organisationsformen) geprägt werden (vgl. ebd.). Diese werden als sich wiederholende Beziehungsmuster für bildungstheoretisch relevant angesehen. In der ökonomischen Bildung wird davon ausgegangen, dass ökonomische Lebenssituationen Anforderungen an die Lernenden stellen, die nicht nur allgemeine, sondern vor allem domänenspezifische ökonomische Kompetenzen zu ihrer Bewältigung erfordern (vgl. u. a. Seeber et al. 2012, S. 84). Als vorrangig relevante Lebenssituationen identifiziert Steinmann (1997, S. 2f.) die Bereiche - „Einkommensentstehung durch Produktion und Arbeit“ und - „Einkommensverwendung durch Inanspruchnahme der erstellten Güter“. Dabei sollen insbesondere solche Lebenssituationen aus diesen beiden Bereichen ausgewählt werden, die entweder ein besonders großes Potenzial haben, zur individuellen Bedürfnisbefriedigung beizutragen, oder besonders relevant sind, weil eine potenzielle Gefährdung abgewendet werden muss (vgl. ebd.). Deutlich wird dies beispielsweise an den von Steinmann genannten eng zusammenhängenden Lebenssituationen „Konsum“ und „Vermögensbildung“ aus dem Bereich „Einkommensverwendung durch Inanspruchnahme der erstellten Güter“. Konsum kann als Teil bzw. Voraussetzung der individuellen Bedürfnisbefriedigung angesehen werden. Aufgrund geänderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ist die Vermögensbildung – die mit einem Verzicht auf Konsum in der Gegenwart einhergeht – heute Voraussetzung für die notwendig gewordene private Altersvorsorge. Fehlende finanzielle Vorsorge für das Rentenalter birgt die Gefahr von Altersarmut und hängt auch eng mit der Ermöglichung von Bedürfnisrealisierung über die gesamte Lebensspanne zusammen. Es wird deutlich, dass beide eng zusammenhängende Lebenssituationen für die individuelle Bedürfnisbefriedigung in gegenwärtigen und zukünftigen Lebenssituationen von Bedeutung sind und gleichzeitig bei einer Nichtqualifizierung für diese Lebenssituationen potenzielle Gefahr für die Heranwachsenden besteht. Nachgeordnete Bedeutung haben im LSQ-Ansatz gesamtgesellschaftliche Lebenssituationen. Genannt werden die soziale, ökologische und internationale Weiterentwicklung der Gesellschaft sowie die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt (vgl. ebd. 1997, S. 7). Diese werden jedoch im LSQ-Ansatz nicht weiter ausdifferenziert, obwohl sie eng mit den Lebenssituationen der Individuen verknüpft sind. Dies lässt sich wiederum beispielhaft an den Lebenssituationen „Konsum“ und „Vermögensbildung“ zeigen: Konsum weist, ökologisch betrachtet, negative externe Effekte für eine Gesellschaft auf. Wird überdies über die persönlichen Verhältnisse konsumiert, birgt dies die Gefahr der Überschuldung. Diese geht häufig mit einer unzureichenden Vorsorge für das Rentenalter einher, die zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem wird und die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt reduzieren kann. Hier bestehen potenzielle gesamtgesellschaftliche Gefahren. Der Anspruch der Qualifizierung für gegenwärtige und zukünftige Lebenssituationen ist Teil des kategorialen Ansatzes von Kruber (vgl. u. a. 2000), des institutionenökonomisch-fachdidaktischen Ansatz von Krol, Karpe, Loerwald und Zoerner (vgl. u. a. 1997; 2008; 2011) und des ordnungstheoretisch-fachdidaktischen Ansatzes von Kaminski (vgl. u. a. Kaminski/Eggert 2008; Kaminski 2012). Nicht zuletzt sind Lebenssituationen auch im Kompetenzmodell von Seeber, Retzmann, Remmele und Jongebloed (2012, S. 73ff.) ein zentraler Ausgangspunkt ihres, auf ökonomischen Perspektiven und Rollen basierenden, fachdidaktischen Konzeptes. Für die ökonomische Bildung gilt nach Kaminski (2012, S. 184): „Es wird von einer Problemsicht, von zentralen Lebenssituationen für Kinder und Jugendliche ausgegangen und nicht von einer wirtschaftswissenschaftlichen Fachsicht.“ Eng verbunden mit dem Allgemeinbildungsanspruch ist deshalb als weiteres Element des theoretischen Reflexionsrahmens ökonomischer Bildung die Orientierung an Lebenssituationen. Albers (1988) und in Anknüpfung an seine Ausführungen Seeber, Retzmann, Remmele und Jongebloed (2012) heben im Zusammenhang mit der Qualifizierung für Lebenssituationen das „kritische Potenzial“ ökonomischer Bildung hervor. Das didaktische Prinzip der Lebensweltorientierung dürfe nicht, im Sinne einer funktionalistischen Erziehung, als eine erwünschte „Bewältigung von Lebenssituationen“ (vgl. Seeber et al. 2012, S. 68) (miss-)verstanden werden. Auch Kruber (2006, S. 200) betont, dass ökonomische Bildung „offen sein [müsse, Anm. d. V.] für unterschiedliche Lebensentwürfe“ (vgl. zur Multiperspektivität ökonomischer Bildung ausführlich Loerwald 2008c). Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe impliziert nach bAlbers (1988) auch „Widerstand oder Verweigerung“ (Albers 1988, S. 7). Kinder und Jugendliche sollen demnach nicht nur in die Lage versetzt werden, gegenwärtige und zukünftige Lebenssituationen zu bewältigen, sondern diese aktiv zu gestalten. Besonders schwierig einzulösen scheint dies bei der Qualifizierung für zukünftige Lebenssituationen, die vom heutigen Standpunkt nicht klar bestimmt werden können. Vor dem Hintergrund der bereits skizzierten fachdidaktischen Ausführungen werden im Rahmen des Interviews explizit Erzählimpulse zu • Multiperspektivität, Kontroversität, Lebensweltorientierung, Aktualität und Zukunfsorientierung und der Relevanz dieser fachdidaktischen Prinzipien gegeben, um die Lehrpersonen anzuregen, ihre Vorstellungen zu diesen fachdidaktischen Prinzipien zu explizieren (vgl. Kapitel 6.2.2). Eine einseitige Orientierung an Lebenssituationen birgt die Gefahr der Theorielosigkeit. Aus fachdidaktischer Sicht ist das Element der Qualifizierung für gegenwärtige und zukünftige Lebenssitiuationen deshalb in einem komplementären Verhältnis zum Element des ökonomischen Denkansatzes als Heuristik (vgl. Kapitel 2.1.4) zu sehen (vgl. u. a. Retzmann 2008, S. 89). Im Hinblick auf die Lehrervorstellungen ist • zu analysieren, welche Rolle Lebensweltorientierung und Wissenschaftsorientierung in den Lehrervorstellungen spielen (vgl. Kapitel 6.1.1) und • in Bezug auf den theoretischen Referenzrahmen zu vergleichen, inwiefern auch die Lehrpersonen auf dieses Spannungsverhältnis zwischen dem didaktischen Situationsund dem Wissenschaftsprinzip eingehen (vgl. Kapitel 7.2). Im Rahmen des LSQ-Ansatzes wird Mündigkeit als übergeordnete Leitidee beschrieben, zu der ökonomische Bildung im Allgemeinen und der Lebenssituationen-Qualifikationen-Ansatz im Besonderen einen Beitrag leisten sollen. Mit der individuellen Entfaltungsmöglichkeit einerseits und der Mitwirkung an der Gestaltung einer für alle ihre Miglieder lebenswerten Gesellschaft andererseits werden von Steinmann beide Dimensionen der Leitidee angesprochen (vgl. ebd. 1997, S. 10). Mündigkeit als übergeordnete Leitidee wird als weiteres grundlegendes Element ökonomischer Bildung im folgenden Kapitel ausgeführt.
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